© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Armdrücken mit dem Autor
Kino: Stéphane Brizé hat Maupassants Roman „Ein Leben“ verfilmt
Sebastian Hennig

Nach seiner Ausbildung zum Elektroniker war Stéphane Brizé als Bild- und Tontechniker beim Fernsehen beschäftigt. Später wechselte er den Beruf und wurde Theaterschauspieler. Von der Bühne gelangte er zum Film und machte schließlich selber Filme. Die Kenntnis der technischen Seite der Bilderzeugung kommt seiner Verfilmung von Guy de Maupassants Roman „Ein Leben“ zugute. Den Bemühungen wahrer Könner ist deren Versiertheit nicht vordergründig anzumerken.

Brizés Film ist unangestrengt. Ihm gelingt es mit filmischen Mitteln, die Intimität einer Romanlektüre zu erzeugen, gerade weil er die Wirkungsweise von Literatur und Film nicht vermischt: „Eine Adaption ist eine Aneignung. Man muß ein literarisches Werk in einen Film verwandeln. Die Mittel unterscheiden sich unglaublich.“ Er setzt Situationen und Bewegungen groß ins Bild. Das sind Wirkungen, wie sie allein der Film ermöglicht. Noch ungewöhnlicher als die Perspektiven und der nahezu quadratische Bildausschnitt wird einem an konventionelle Lösungen gewöhnten Zuschauer die unkommentierte Verwebung des Erzählfadens in eine Textur von Erinnerungen und Wiederholungen vorkommen. Man gewöhnt sich schnell an diese unvermittelte Gleichzeitigkeit. Und bald  wirkt alles ganz natürlich und viel weniger artifiziell, als filmische Vorspiegelungen vergangener Handlungen es sonst sind. 

Maupassants Debütroman „Une Vie“ ist zuerst 1883 erschienen. Er handelt von der traurigen Geschichte einer Tochter aus gutem Hause, die nach der Erziehung in einem geistlichen Konvent mit 17 Jahren wieder auf das Landgut der Eltern in der Normandie zurückkehrt. Jeanne (Judith Chemla) hat ihre romantischen Vorstellungen vom Leben aus Büchern gezogen. Die Weltferne ist hier Familiensache. Ihr Vater Simon-Jacques (Jean-Pierre Darroussin) erweist sich als Anhänger der Ideen Jean-Jacques Rousseaus, und die kranke Mutter Adélaïde (Yolande Moreau) lebt innerlich abwesend vor sich hin.

Die Tochter erfährt das Geheimnis von einer unerfüllten Liebe der Baronin erst nach deren Tod aus den aufbewahrten Briefen des leidenschaftlichen Verehrers. Zu jenem Zeitpunkt ist sie selbst in ihrer Lebenskraft bereits durch einige herbe Enttäuschungen erschüttert worden. Doch das entfaltet sich alles eher beiläufig vor den Augen des Zuschauers. Der Film beginnt mit einer fraglichen Idylle. Vater und Tochter arbeiten im Garten. Ungeschickt begießt Jeanne die Pflanzungen aus einer großen Messingkanne, benetzt dabei den Saum ihres langen Kleides und tappt fast auf die Setzlinge, die sie doch hegen soll.

Wechsel von einer Zeitebene zur nächsten  

Literaturverfilmungen bestehen oft in einer zeitlich linearen Illustration der Handlung oder sie tendieren zum Kostümfilm mit Konversation. Der Regisseur hat einen anderen Weg gewählt. Seine Kamera nimmt die Perspektive der Jeanne ein: „In Jeannes Wahrnehmung ist alles ineinander verschlungen, und der durch sehr brutale Ellipsen entstehende Stapelungseffekt verdeutlicht die vergehende Zeit. Wir wechseln von einer Zeitebene zur nächsten, so wie der Verstand von einer Erinnerung zur nächsten übergeht. In jedem Moment vermischt der Verstand Gegenwart und Vergangenheit. Letztlich ist das Leben gar keine so chronologische Abfolge von Ereignissen. Wir mußten diesen Wirrwarr erzeugen, um das, was Maupassant mit seinen schriftstellerischen Mitteln beschreibt, zu veranschaulichen.“

Das Geschehen ereignet sich hier in oftmals stummen oder wortkargen Bildern. Keine von außen eingespielte Stimme noch Schrift kommentiert es. Der Regisseur schildert die Auseinandersetzung mit der literarischen Vorlage als einen Kampf gegen die Sprache des Autors: „Dann hatte ich den Eindruck, daß sich der Roman rächt, daß er mich eine Weile lang gewähren ließ, mir aber nun zeigt, wer der Herr im Haus ist. Es war ein Armdrücken mit dem Werk. Ich durfte mich nicht von der Sprache durchdringen lassen, sondern von dem, was jenseits der Sprache liegt. Die Sprache eines Romans ist übrigens ein schreckliches Paradox. Sie hat bewirkt, daß mich die Geschichte berührt, und zugleich ist sie mein schlimmster Feind. Denn man darf dem Autor, dessen Roman man verfilmt, nicht folgen, man muß gegen das, was er schreibt, ankämpfen. Man muß sich anhören, was er vorschlägt. Es ist ein seltsamer Kampf.“

Das Mädchen taumelt in eine Ehe mit dem verarmten Visconet Julien de Lamare (Swann Arlaud), und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Das heißt hier, es steuert beinahe beiläufig in die Düsternis, die immer wieder von lichten Augenblicken durchsetzt ist. Das Paar steigt auf einen Berg und schaut hinab auf das Wasser. Auf die Frage, ob er sie immer lieben werde, antwortet er erwartbar. An Winterabenden legt er Patiencen, während sie am Kamin unter dem Umschlagtuch und wollenen Kleid fröstelt. Sie wird Zeugin seines Ehebruchs mit dem Dienstmädchen Rosalie (Nina Meurisse), ihrer Gespielin aus Kindertagen. Dem Zuschauer bleibt die Szene verborgen. Das Ringen der Eheleute im nächtlichen Park zeigt den Grad der Erschütterung.

Im Wechsel der Jahreszeiten wird das herbe Leben der Landadligen dargestellt. Und wir sehen die unerschütterliche Treue der Bediensteten. Es sind verhangene Tage, die etwas durch die Erinnerung und noch weniger durch Kerzenschein und Kaminfeuer erleuchtet werden. Brizé hat seinem Film im Armdrücken mit Maupassant eine gute Form abgerungen, ohne dem Schriftsteller dabei die Schulter auszukugeln.

Filmstart ist am 24. Mai 2018

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