© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Zerbrochene Mythen der linken Netzgemeinde
Kontrollverlust: Im angeblich eigengesetzlichen Cyberspace geht es zu wie im richtigen Leben
Wolfgang Müller

Maximilian Probst, Jahrgang 1977, vornehmlich in der Zeit sich über Bildung, Kultur und „Populismus“ auslassender Journalist, plädiert im einst von der SED rundum finanzierten Zentralorgan der orthodoxen BRD-Linken dafür, „die digitale Innovation endlich demokratisch auszugestalten“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2018). 

Vordringlich deshalb, um dem „Rechtspopulismus“ das Wasser abzustellen, das seit dem Beginn der Masseneinwanderung auf dessen Mühlen fließe und aus dem er einen „großen Teil seiner Stärke bezieht“. Probst, ein Gundermann redivivus aus Fontanes „Stechlin“,  schwebt für die Wassersperre eine Patentlösung vor: Über den „angeblichen Kontrollverlust an Bayerns Grenze zu Österreich“, der sich auf ein einziges „September-Wochenende im Jahr 2015“ beschränkt habe und über den man sich bis heute, wo doch längst alles vorbei sei, völlig unnötig „die Köpfe heißredet“, sollte tunlichst nicht mehr berichtet werden. So lasse es sich verhindern, eine „diffuse Angst“ vor der „unregulierten Moderne ins Kulturelle“, in eine ebenso „diffuse Angst vor ‘Überfremdung’ zu verschieben“. Stattdessen wäre ein Kontrollverlust von ganz anderem Kaliber ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, das „epochale Staatsversagen bei der Digitalisierung“. 

Glücklich die Qualitätsblätter, die über Zuarbeiter wie Probst verfügen. Typ Horst Schlämmer: „Discht dranbleiben, harrt naachfraagen!“ Die „Flüchtlingskrise“ hat also fast nicht stattgefunden. Ihre öffentliche Dauerpräsenz ist das Resultat mangelhafter „demokratischer“ Regulierung, vulgo Zensur, nicht zwangsgebührenfinanzierter Medien. So darf es nicht weitergehen. Zumal die breitbeinig aufgestellte antideutsche Linke die von ihr ersehnte schöne neue Cyber-Welt gleich von zwei Seiten bedroht sieht. Zum einen durch die auch vom Blätter-Redakteur Dieter Leisegang in Moskau vermuteten, den westeuropäischen „Rechtspopulismus“ befeuernden  „Demokratiehacker“, zum anderen durch die unheilige Allianz von Facebook mit Unternehmen wie Cambridge Analytica, die mit Microtargeting, auf spezifische Personengruppen zugeschnittenen Werbebotschaften, sowohl den Ausstieg Großbritanniens aus der EU wie auch den Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus bewirkten. 

Die Enttäuschung neu bekehrter Staatsgläubiger wie Probst, Leisegang und Ulrich Dolata, dem Stuttgarter Professor für Organisations- und Innovationssoziologie, die das Blätter-Heft zur „Facebook-Demokratur“ bestreiten, ist nachvollziehbar. Waren sie doch lange so naiv wie die politische Klasse der Bundesrepublik, die wähnte, was sich im Internet tue, spiele sich irgendwo jenseits demokratischer Entscheidungsprozesse, an einem unzugänglichen, politisch gleichgültigen Ort ab, den Angela Merkel allen Ernstes noch 2013 „Neuland“ taufte.

US-Internetriesen sind „Staatsgewächse“

Mit dieser Fehleinschätzung stand die Kanzlerin damals nicht allein. „Der alte Grund und Boden“ begann 2013 zwar „schon mächtig zu schwanken“, wie Probst sich erinnert, aber die „meinungsführende Netzgemeinde“ habe stur am Ursprungsmythos festgehalten, dem zufolge der Cyberspace im „souveränen, eigengesetzlichen Raum“ neue Areale der „Freiheit und Demokratie“ erobere, die den Interventionen des Staates entzogen wären und in denen sich postmodernes Weltbürgertum warmlaufen könne. 

Daß die US-Internetriesen im Silicon Valley, nicht anders als die „russischen Superhacker“, „Staatsgewächse“ sind, emporgewachsen aus dem Humus milliardenschwerer Subventionen, ausgeschüttet während des informationellen Wettrüstens, wollte niemand wissen. Lieber beschworen Internet-Hippies die Wurzeln des Cyberspace in der linken kalifornischen Gegenkultur der 1960er, die den Staat aufgegeben hatte – „zur klammheimlichen Freude der neoliberalen Verfechter globaler Deregulierung“.