© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Ohne Angst und Anmaßung
Zwei Bücher analysieren die deutsche Außenpolitik, der immer noch der strategische Kompaß fehlt
Peter Seidel

Es war die Rede des scheidenden Präsidenten zum Ende seiner Amtszeit. Joachim Gauck formulierte Kritik an der „dominierenden Kultur der Zurückhaltung und Selbstbeschränkung“ in Deutschland. Und als „das Wichtigste“ forderte er: „Vor allem Haltung: Es ist das Vertrauen zu uns selbst, das Vertrauen in die eigenen Kräfte.“ Eine Rede, gehalten am 18. Januar 2017, dem Jahrestag der Rangerhöhung Preußens zum Königreich, dem Jahrestag der Bismarckschen Reichsgründung. Nur Zufall oder ein Vermächtnis? 

Das Zitat stammt aus dem Buch von Leon Mangasarian und Jan Techau über eine „Führungsmacht Deutschland“. Die Autoren werten es als ermutigendes Beispiel notwendiger Veränderung: Gauck habe die „Heilung des deutschen (historischen) Traumas“ versucht, vor dem Verharren in einer „unheilvollen Kultur von Ängstlichkeit, Indifferenz und Selbstzweifel“ gewarnt und „Vertrauen zu uns selbst“ eingefordert. 

Mit allerdings deutlichen Abstrichen könnte das Zitat auch als Motto über dem Buch von Adrian Arnold „Deutschland – der ängstliche Riese“ stehen. Denn beide Bücher verlangen eine neue strategische Kultur in Deutschland, die das Land befähigt, sich neu herandrängenden Herausforderungen zu stellen, die sich außen- und sicherheitspolitisch abzeichnen, gerade auch europapolitisch. Mangasarian und Techau sind Politikwissenschaftler aus den USA und Deutschland, Arnold Auslandskorrespondent des Schweizer Fernsehens in Berlin. 

Mangasarians und Techaus Buch ist aktuelle Beitrag zu einer Diskussion, die sich verstärkt seit nunmehr fünf Jahren um Deutschlands Rolle in Europa entwickelt. Laut Untertitel mit dem Ziel der Formulierung einer „Strategie ohne Angst und Anmaßung“. Klar wie selten beschäftigt es sich mit dem Thema zielbewußter Vorausschau und Handeln eines Landes, der „strategischen Kultur“. Mit dem Ergebnis, die jetzige könne in Deutschland „nicht mehr das leisten, was die Republik jetzt eigentlich brauchte“, da sie eine „Strategievermeidungskultur“ sei, erst recht angesichts der klar benannten Veränderungen: daß erstmals die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa in Gefahr sei und Nato und EU in der Gefahr stünden, „dysfunktional oder sogar irrelevant zu werden“. Daß der „ganze osteuropäische Raum“ unter russischen Druck gerate, der Nahe Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika im Chaos versinke, der Balkan unter islamistischen und russischen Einfluß gerate und, ganz aktuell, auch China zunehmend seinen Einfluß in Südosteuropa ausbaue, mit möglichen spaltenden Auswirkungen auf die EU.

Da Deutschland eine Führungsrolle nie angestrebt habe und deshalb unvorbereitet sei auf die neuen Herausforderungen, sei ein grundlegender „Mentalitätswechsel“ nötig, mit einer positiveren Einschätzung der stabilisierenden Möglichkeiten militärischer Mittel und der nuklearen Abschreckung in der internationalen Politik sowie beim Neuaufbau der Bundeswehr. Hier ist der Vorschlag, diese zur „Ankerarmee“ in Europa zu entwickeln, weitaus sinnvoller als deren von der Bundesregierung betriebene „Europäisierung“. Er hätte aber weiter ausgeführt werden sollen. 

Nötig sei vor allem die Einrichtung eines „Strategieprozesses auf Regierungsebene, gekoppelt an eine Debatte in der Bevölkerung“, eine strategische Kommunikation mit dem Ziel einer „Herausbildung einer (robusteren) strategischen Kultur“. Kernstück eines solchen Mentalitätswechsels müsse eine „dienende Führerschaft“ sein, die es „Deutschland erlaube, sich in den Dienst einer größeren Sache zu stellen“, der Sache Europas. 

Werben für mehr deutsche finanzielle „Großzügigkeit“

Allerdings stammt dieses Modell aus der Betriebswirtschaft, also der Innenpolitik, und ihre Anwendung auf die Außenpolitik weckt ebenso grundsätzliche Zweifel wie die Anwendung anderer innenpolitischer Kriterien wie soziale Gerechtigkeit oder Solidarität. Es sei hier nur daran erinnert, daß Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA einst sogar „uneingeschränkte Solidarität“ zusicherte, allerdings ohne Präsident George W. Bush einen einzigen deutschen Soldaten für dessen Irakkrieg abzustellen.

Eine Enttäuschung ist leider trotz mancher guter Anregungen das Buch von Arnold. Hier handelt es sich mehr um eine tagesaktuelle Momentaufnahme Deutschlands vor der Bundestagswahl 2017, wie auch die eingestreuten Reportageelemente und Kurzinterviews zeigen. Die außenpolitischen Betrachtungen bleiben deshalb eher dünn. Um so deutlicher wird, daß er vor allem für deutsche finanzielle „Großzügigkeit“ in Europa wirbt. Das Buch weckt Erwartungen, die es leider nicht erfüllt.

Allerdings gilt für beide Bücher: So interessant die außen- und sicherheitspolitischen Anregungen sind, gilt dies nicht für die europapolitischen. Hier bewegen sich beide Bücher in eingefahrenen Gleisen. Zwar räumen Mangasarian und Techau ein, daß „der Europäische Bundesstaat“ eben „kein realistisches Ordnungsmodell“ sei – bei Arnold sieht das anders aus –, fordern aber grundsätzlich Ausbau und Etablierung einer „Transfer- und Schuldenunion“! Ob ein solches europäisches Finanzregime überhaupt tragfähig wäre, sagen sie nicht. Nur daß es sehr teuer würde, vor allem für Deutschland. Wieso dieses einerseits in den Ausbau europäischer Sicherheit investieren und soll zusätzlich noch in die Schuldenunion, bleibt offen. 

Insgesamt aber sind beide vorgestellten Bücher trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung ein aufschlußreiches Beispiel für eine Diskussion, die das Bewußtsein für einen realistischen deutschen Politikwechsel schärfen will und eine Hinwendung zu einem postromantischen Politikverständnis einfordert. Diese Diskussion ist nicht einfach Schaum auf der Welle, sondern Indiz für tieferliegende tektonische Verschiebungen, auch weil die deutsche Europapolitik, wenn auch noch hinter Rauchschleiern, einen der wesentlichen, wenn auch vielleicht noch nicht den entscheidenden Knackpunkt der Koalition darstellt.

Der Dissens über eine endgültige Ausweitung der Transferunion in der EU im Gefolge der „Reformvorschläge“ des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron steht also noch aus. Die Große Koalition wird dies jedoch nicht mehr lange ignorieren, auch wenn sich bereits Martin Schulz’ in der SPD bisher unwidersprochene Forderungen nach den USE, den „United States of Euro“, und die Absage von Teilen der CSU vor der anstehenden Landtagswahl in Bayern im Oktober an einen europäischen Bundesstaat diametral gegenüberstehen.  

Bereits 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz hatten Außenminister Sigmar Gabriel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ähnliche Töne wie Joachim Gauck angeschlagen. Doch wie die deutschen Pläne zur „Europäisierung“ der Bundeswehr geht die Entwicklung eben nicht in Richtung „Ankerarmee“ für kleinere europäische Staaten, sondern in Richtung Selbstmarginalisierung. Der desolate Zustand der Bundeswehr läßt augenblicklich jedenfalls keine andere Deutung zu. Jedenfalls scheint die Wirkung der Rede des scheidenden Bundespräsidenten ebenso verpufft wie einst die seines Vorgängers Roman Herzog, der 1997 einen „Ruck“ durch Deutschland anmahnte. Berlin ist eben nach wie vor eher für vollmundige Bekenntnisse als für realistische und substantielle neue Schritte für Europa prädestiniert. 

Adrian Arnold: Deutschland – der ängstliche Riese.Merkel und die verunsicherte Republik. Verlag Orell Füssli, Zürich 2017, broschiert, 192 Seiten, 19,95 Euro

Leon Mangasarian, Jan Techau: Führungsmacht Deutschland. Strategie ohne Angst und Anmaßung.Dtv Verlagsgesellschaft, München 2017, gebunden, 176 Seiten, 20 Euro