© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Überladen und seeuntüchtig
Prozeß: Ein mutmaßlicher Schleuser aus Afghanistan muß sich für den Tod von über 60 Migranten vor der griechischen Küste verantworten
Hinrich Rohbohm

In Handschellen wird Ismail G. von zwei Justizvollzugsbeamten in den Saal 272 des Osnabrücker Landgerichts geführt. Ohne sich weiter umzusehen, steuert der 28jährige den Stuhl neben seinem Verteidiger Thorsten Diekmeyer an. Die gefesselten Hände des aus Afghanistan stammenden Mannes mit dem dunklen, hinten kurzgeschorenen Haar und dem ebenfalls kurz gehaltenen Bart umklammern einen Briefumschlag. Ausdruckslos ist sein Blick zumeist auf den Boden gerichtet, als Staatsanwältin Nicole Jakielski die Anklage gegen ihn verliest.

Demnach soll sich G. im Auftrag eines bisher noch unbekannten Täters bereit erklärt haben, zwei Schwestern und ihre vier Kinder im Alter von ein bis sieben Jahren von dem westtürkischen Küstenort Bodrum aus nach Griechenland zu schleusen. 16.200 Euro habe der Beschuldigte hierfür erhalten, 2.700 Euro pro Person.

Laut Anklageschrift bringt er die sechsköpfige Gruppe am 21. Januar 2016 zu einem in der Nähe von Bodrum gelegenen Schleuserboot. 85 weitere Migranten haben sich dort bereits eingefunden. Die Schleuser wollen sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion trotz schlechter Witterungsbedingungen über die Ägäis in die EU schmuggeln. Doch in der Nähe der griechischen Insel Kalolimnos läuft das „völlig überladene und erkennbar seeuntüchtige Boot“ in den frühen Morgenstunden des 22. Januar mit Wasser voll und sinkt. Die griechische Küstenwache kann nur 24 Menschen retten, der Rest ertrinkt. Unter ihnen: die beiden Schwestern mit ihren vier Kindern.

Auch G. ist mit auf dem Boot. Er zählt zu jenen wenigen, die eine Rettungsweste trugen. Ein Umstand, den sein Verteidiger Diekmeyer als Beleg dafür anführt, daß der Angeklagte vielmehr selbst Flüchtling gewesen sei und kein Schleuser.

Überlebende haben ihn als Schleuser identifiziert

Als solcher gibt er sich auch gegenüber den Behörden aus, reist so weiter nach Deutschland. „Nach dem Abitur habe ich zwei Jahre Politikwissenschaften studiert“, erzählt er dem Gericht über sein Leben in Afghanistan. Dann habe er das Studium abgebrochen und eine Privatschule betrieben. Diese sei den Taliban jedoch „ein Dorn im Auge“ gewesen, so die Version des Angeklagten. Deshalb sei er aus Afghanistan geflohen. Nach seiner Anerkennung als Asylsuchender habe er geplant, seine Frau sowie seine zwei Kinder auf legalem Wege nach Deutschland zu holen. 

Mehr als ein Jahr lang bleibt er in der Bundesrepublik unerkannt, jobt für eine Zeitarbeitsfirma. Erst im Dezember vorigen Jahres kommen ihm die Ermittler auf die Spur. Bundespolizisten nehmen ihn in Wallenhorst bei Osnabrück fest. Überlebende des Bootsunglücks hatten ihn als Schleuser identifiziert. Deren Aussagen vor Gericht dürften nun von entscheidender Bedeutung sein. Sind sie glaubwürdig, könnte G. wegen Einschleusung mit Todesfolge verurteilt werden werden. Dann droht ihm eine Haftstrafe zwischen drei und 15 Jahren. Für die Fortsetzung des Prozesses am 12. Juni kündigte er bereits eine umfassende Aussage an.

Bodrum gilt als Hauptanlaufpunkt für Immigranten aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan. Seit 2015 lotsen Schlepper sie von hier aus per Mobiltelefon an abseits gelegene Strandabschnitte, um sie anschließend mit Schlauchbooten, die oftmals in einem schlechtem Zustand sind, auf die griechischen Inseln zu bringen (JF 36/15). Nicht selten kommt es dabei vor, daß Schleuser die Boote vorzeitig verlassen, zurückschwimmen und ihre „Kundschaft“ allein im Boot zurücklassen. Für den Prozeß sind insgesamt sechs weitere Verhandlungstage angesetzt. Ein Urteil wird für Ende Juli erwartet.