© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Als die Front in die Heimat kam
Der Bombenkrieg im Ersten Weltkrieg am Beispiel Freiburg und Mainz: Nur die technisch begrenzten Möglichkeiten verhinderten Schlimmeres
Christoph Bathelt

Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts führte auch zu einer Industrialisierung des Krieges. Das Massenschlachten an der Somme und am Isonzo sind hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist allerdings, daß der Begriff „totale Mobilmachung“, der normalerweise mit Joseph Goebbels und seiner Sportpalastrede verbunden wird, aus dem Ersten Weltkrieg stammt, genauer, von dem Industriellen Walther Rathenau. Dieser war eine der maßgeblichen Figuren der deutschen Kriegswirtschaft und als Publizist sehr aktiv, so unterstützte er beispielsweise die Zwangsverpflichtung belgischer Arbeiter für das Reich und den Einsatz von Luftschiffen zur Bombardierung Londons. Das war nämlich der nächste Schritt in dieser „Totalisierung“: Nicht nur die Industrie und Gesellschaft der Heimat wurde den Kriegsplanungen ein- und untergeordnet – auch die Front kam in die Heimat.

Deutsche Zeppeline griffen Paris und London an

Die Bombardierung Londons und selbst von Industriestädten in Mittelengland durch deutsche Zeppeline konnte erfolgen, als die deutsche Armee die belgische Kanalküste erreichte. Auch Paris wurde in der Folge mehrmals aus der Luft bombardiert. Die militärischen Erfolge waren minimal, da die Bomben noch händisch aus der Maschine geworfen wurden und es praktisch nur Zufallstreffer gab. Erst mit der technischen Weiterentwicklung im Verlauf des Kriegs vergrößerte sich die Reichweite der ansonsten noch sehr einfach gebauten Propellermaschinen, welche die Alliierten zum Gegenangriff einsetzen. Insgesamt forderten die deutschen Angriffe auf England, Belgien und Frankreich etwa 1.300 zivile Opfer, mehr als 1.100 Zivilisten starben bei Angriffen der Ententemächte auf Deutschland und Österreich-Ungarn. 

Am meisten wurde Freiburg im Breisgau getroffen, das nur fünfzig Kilometer oder zwölf Flugminuten von der französischen Front in den Vogesen entfernt lag. Am 4. Dezember 1914 kam es zum ersten Bombenangriff, und beim folgenden am 13. Dezember starben erstmals Menschen. Der 22jährige Rekrut Hubert Meier und die 66jährige Alexandra von Bradke erlagen beide ihren Verletzungen durch Bombensplitter.

Anfangs waren die Menschen von diesem Phänomen fasziniert und liefen neugierig beim Brummen der Motoren auf die Straße – erst ein Jahrzehnt zuvor war den Gebrüdern Wright ein motorgetriebener Flug gelungen. Mit Hilfe von Flugblättern versuchten die Behörden, die Menschen vor solch leichtsinnigem Verhalten zu warnen.

Die Badische Zeitung zitiert den Professor und Theologen Joseph Sauer, der das Ergebnis von solch einem Angriff in seinem Tagebuch schilderte: „Ich sah zur Haustüre heraus und nahm dort alsbald die Steinblöcke vor Himmelsbachs wahr. (...) Dort kam inzwischen Messer und ein Ausläufer von Himmelsbachs auch hinzu und riefen, daß oben ein Mann hänge, rücklings mit dem Kopf nach unten vom dritten Stock. Es war keine Möglichkeit beizukommen. Unterdessen war ich ins Innere vorgedrungen. Im Treppenhaus die ganze Treppe weg, der Läufer hing wie ein Schlauch herunter. Es war keine Möglichkeit aufwärts ohne Lebensgefahr zu kommen. Oben lagen Leichen eingeklemmt, zerrissen, zerquetscht. Bis zum Keller lief das Blut in Bächen herab. (...) Ich ging dann zum Keller, dort traf ich Jäckle und noch einige Angestellte, die ich befreite, und nach unserem Haus brachte; ein Mädchen darunter ganz blutüberströmt und mit zerrissenem Oberschenkel.“

Freiburg galt als offene Stadt und durfte selbst nach dem damaligen Völkerrecht nicht angegriffen werden. Aber als Garnisonsstadt und Logistikzentrum nahe der Front war es ein zu verlockendes Ziel. Wirkungsvolle Abwehr gab es nicht, einzelne Artilleriegeschütze auf dem Freiburger Schloßberg hatten eher symbolische Bedeutung, die feindliche Flieger höchstens ablenken, aber nicht abwehren konnte. Eine Jagdstaffel nebst Fliegerschule am Freiburger Flughafen konnte aufgrund mangelhafter Ausrüstung nicht wirkungsvoll helfen, sie benötigten rund dreißig Minuten, um auf die erforderliche Flughöhe zu kommen – da waren die Franzosen längst wieder weg. Als schlimmster Tag gilt der 14. April 1917, als binnen 27 Minuten 64 Bomben fielen.

Im weiteren Verlauf des Krieges optimierte man logistische Prozesse und baute diese aus: Alarmsignale wurden definiert, gesicherte Luftschutzräume, Luft- und Feuerwachen eingerichtet und allgemeine Verdunklung angeordnet. Versicherungen reagierten und boten „Fliegerversicherungen“ an – eine Einrichtung, die vereinzelt noch zwanzig Jahre später existierte und von der Botschafter Erwin Wickert – Vater des bekannten Fernsehmoderators – noch 1941 profitierte, als sein Haus in Berlin zerbombt wurde. Erst dann wurde dieses Angebot ziemlich schnell wieder abgeschafft.

Bevölkerung wurde in Angst und Schrecken versetzt

Einige Freiburger forderten die Verlegung eines Gefangenenlagers für englische Offiziere in die Innenstadt als menschliche Schutzschilde, was schließlich erfolgte – an der Zahl der Angriffe änderte es allerdings nichts. Bei insgesamt 25 Angriffen und rund 290 Bomben starben 30 Menschen, weitere 80 wurden zum Teil schwer verletzt.

Ebenfalls zitiert wird in der Badischen Zeitung der Freiburger Psychiater und Neurologe Alfred Hoche „Die unmittelbar bemerkbaren Wirkungen (...) sind die üblichen deutlichen Symptome der Angst. Am häufigsten sind Zittern und Blässe, aber auch neben mehr oder weniger mechanischem Beten, Zustände von hysterischem Lachen, akute Diarrhöen, stark vermehrte Urinausscheidung und lebhafter Durst.“

Ein weiteres Beispiel für städtische Bombenangriffe ist Mainz. Das Geschehen vom 9. März 1918 kann relativ gut und detailliert rekonstruiert werden und schlug sich im Werk zweier bekannter Schriftsteller nieder. Das Inferno der fast vollständigen Vernichtung der Stadt im Jahre 1945 hatte die Erinnerungen an 1918 nur überdeckt. 

Der Morgen versprach in der großherzoglich hessischen Provinzhauptstadt Mainz einen schönen Frühlingstag. Meta Cahn und ihr Mann Jakob, der einer angesehenen Mainzer Kaufmannsfamilie („Papier-Cahn“) entstammte, waren vormittags am Neubrunnenplatz spazierengegangen, um das warme und sonnige Wetter zu genießen. Sie beklagte – gerade 29 Jahre alt – während des kleinen Ausflugs, daß ihr neues Kleid sie so alt mache. Um sie aufzuheitern, sagte ihr Mann: „Du wirst doch nie alt.“ Jakob hatte aufgrund einer Wundinfektion ein steifes Bein und mußte daher nicht an die Front, dort wo seine zwei Brüder Leo und Michel fallen sollten.

Gegen Mittag besuchten sie Jakobs Eltern am Kirchplatz, dem heutigen Bonifatiusplatz. Dann machten sie sich auf den Heimweg in die Schulstraße 54 (heute: Adam-Karrillon-Straße), wo bereits ihre beiden Kinder auf sie warteten. In der Schulstraße 17, bei Familie Kohl, betrat derweil der Vater das Haus. Seine Frau und seine Kinder Trudel und Carl August erwarten ihn bereits. Drei Häuser weiter in der Schulstraße 23, vor dem Haus von Eduard Goldschmidt – dem Großvater des Schriftstellers Carl Zuckmayer – putzten die beiden Dienstmädchen Maria Mattes und Maria Winsiffer die Treppe.

Mit einem Mal hörte man die heranbrummenden Flugzeuge. Frau Kohl, die mit ihrer Tochter am geöffneten Fenster stand, befürchtete feindliche Flugzeuge. „Ach wo,“ meinte ein vorbeigehender Soldat, „es hat doch gar keinen Alarm gegeben.“ Ein tödlicher Irrtum – neun französische Doppeldecker näherten sich der Stadt! Beobachter hatten die Aufgabe, den Anflug feindlicher Flieger telefonisch an die Wache in der Schillerschule durchzugeben, die dann durch Abschießen von Böllern und Raketen die Bevölkerung warnen sollte. Leider machte diese gerade Mittagspause.

Entgegen allen Warnungen der Behörden gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, um das Schauspiel zu betrachten. Jakob Cahn zog seine Frau in einen Hauseingang, um dort Schutz zu suchen, doch diese hatte Sorge um ihre daheimgebliebenen Kleinen und rannte los in Richtung ihres Hauses – schon fielen erste Bomben. Krachend explodierten sie auf der Straße. Der Soldat, der sich kurz zuvor noch so unbekümmert gezeigt hatte, war sofort tot. 

Angriffe wurden von Seghers und Zuckmayer erwähnt

Die zwei Dienstmädchen erlagen ihren Verletzungen und verbluteten. Die kleine Trudel Kohl, acht Jahre alt, wurde vom Luftdruck an das Treppengeländer geschleudert und starb ein halbes Jahr später an den Spätfolgen der inneren Verletzungen. Meta Cahn, die bereits die Forsterstraße erreicht hatte, wurde dort in die großen Platanen geschleudert und starb. Außerdem kamen ums Leben: Telegraphenbauwart Richard Flöter, Gefreiter Heinrich Wörner, Musketier Wilhelm Schmidt, Marie Willmuth, der vierzehnjährige Alfred Hoffmann, Festungsbauwart Flöter, Wirt Karl Codini und der Steuermann Heinrich Wolf. In den Mainzer Zeitungen wurde ein französischer Armeebericht zitiert, der von „Zerstörungen von Bahnanlagen und Fabriken“ berichtete, einige Tage später warfen deutsche Luftschiffe Bomben über Paris als „Antwort“ ab.

Die Bevölkerung war schockiert. Die Stadtverwaltung, vertreten von Oberbürgermeister Karl Göttelmann, übernahm die Organisation der Trauerfeierlichkeiten. Das Hofmarschallamt in Darmstadt sandte ein Beileidstelegramm von Großherzog Ernst Ludwig und seiner Frau. Die halbkreisförmige Detonationsstelle vor dem Geschäft wurde mit weißen Kalksteinen und einem schwarzen Kreuz ausgefüllt, um dieses Augenblicks zu gedenken. Später wurde aus Respekt vor der Familie Cahn, die jüdischen Glaubens war, das Kreuz entfernt.

Gleich zwei Schriftsteller haben dieses blutige Ereignis Jahrzehnte später literarisch verarbeitet. Anna Seghers erzählt in ihrem Aufsatz „Zwei Denkmäler“ aus dem Jahr 1965 die Geschichte einer gewissen Frau Eppstein, „die für ihr Kind Milch holen wollte“ und dabei umkam. Vorbild für die Figur Frau Eppstein war Meta Cahn, die wiederum gut mit der Mutter von Anna Seghers, Hedwig Reiling, bekannt war. Die Reilings wohnten in Mainz nur wenige Straßen von den Cahns entfernt. Daß Seghers der Bombenangriff von 1918 noch gut in Erinnerung war, zeigt eine Bemerkung in einem Interview von 1941: „Ich bin schon einmal der Kriegszerstörung meiner Heimatstadt entgangen.“

Carl Zuckmayer, der den Krieg als Kriegsfreiwilliger im Nassauischen Feld-Artillerie-Regiment Nr. 27 in Flandern erlebte, erwähnt die Fliegerattacke in seinen Lebenserinnerungen „Als wär’s ein Stück von mir“. Er beschreibt, wie die Bombe vor dem Haus seines greisen Großvaters niederging und die beiden Haushaltshilfen in den Tod riß.

Abgesehen von diesen beiden literarischen Zeugnissen ist die Erinnerung an die Ereignisse im Frühjahr 1918 weitgehend verblaßt. Zu nachhaltig hat der Bombenterror zwischen 1942 und 1945, bei dem 80 Prozent der Mainzer Innenstadt ausgelöscht wurden, das kollektive Gedächtnis geprägt. Nach über sieben Jahrzehnten konnte der Hergang dieser Tragödie rekonstruiert wurden, unter anderem durch den Kontakt des Autors mit Margarete Oppenheimer, der Tochter Meta Cahns, die nach Buenos Aires emigrieren mußte, und dem Bruder von Trudel Kohl, der erst unlängst über hundertjährig starb. Mit Hilfe von Spenden von Anwohnern, Schülern der benachbarten Gymnasien und zahlreicher Bürger wurde 1993 eine Stele errichtet, auf der alle Opfer namentlich aufgeführt sind.

Auch wenn die geschilderten Fliegerangriffe nur Fußnote der Geschichte sind, so markieren sie doch einen wichtigen Wendepunkt der Kriegsführung –den Beginn des Bombenkriegs, der nicht mehr zwischen Front und Heimat unterschied und bewußt Opfer in der Zivilbevölkerung in Kauf nahm. Walther Rathenau schrieb dazu in seiner Schrift „Der Kaiser“ aus dem Jahr 1918: „Krieg ist kein Anfang, sondern ein Ende; was er hinterläßt, sind Trümmer.“