© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Märkte benötigen keine großen Erzählungen mehr
Auflösung des Geschichtsbewußtseins: Vom nationalen Wir zur sinnbefreiten Ich-AG
Oliver Busch

Seine Tübinger Abschiedsvorlesung widmete der Historiker Anselm Doering-Manteuffel dem Thema „Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative“ (Historische Zeitschrift, 306-2018). Den Modebegriff „Narrativ“, der seit den 1980ern traditionelle Ausdrücke wie „Erzählform“ oder „Weltbild“ ersetzt hat, definiert Doering-Manteuffel in herkömmlicher Weise als „Textschema, das für die Ordnung von Erfahrung und Wissen grundlegend ist“. Ein von Historikern komponiertes Narrativ erbringt eine gesellschaftlich bedeutsame, Orientierung und Sinn stiftende Leistung, indem es aus dem Chaos überlieferter Geschichten erst „eine Geschichte“ formt.

Die bundesdeutsche Geschichte seit 1949, darauf beschränkt sich die Vorlesung letztlich, teilt Doering-Manteuffel in drei Phasen ein, denen jeweils ein dominierendes Narrativ entsprochen habe. Er beginnt mit der Wiederaufbau- und Konsolidierungsphase der Bonner Republik, die bei Doering-Manteuffel  aber nicht wie üblich mit der Zäsur von 1968 endet, sondern unscharf mit dem Abbruch der sozialliberalen Modernisierung, nach dem Rücktritt Willy Brandts, parallel zur ersten Energiekrise („Ölkrise“), der Entdeckung der „Grenzen des Wachstums“ und dem Niedergang der Traditionsindustrien in Westeuropa und in den USA. „1975 kippt die Stimmung“, und mit dem „deutschen Herbst“ 1977 schloß das „rote Jahrzehnt“ auch an den Universitäten ab, während die Euphorie der „sexuellen Befreiung“ fünf Jahre später mit dem Auftauchen von Aids abgeebbt sei. Anstelle der Ideologie der „Emanzipation“ trat in der Protestkultur der frühen achtziger Jahre das Umweltengagement und die Forderung nach ökologischer Restriktion der Ökonomie. Aber auch für diese zweite, „depressive“ Phase setzt Doering-Manteuffel keinen markanten Schlußpunkt, etwa die Wiedervereinigung. Vielmehr startet bei ihm die dritte, bis heute anhaltende Phase des „Primats der globalen Ökonomie“ mitten in der zweiten, um 1975.

Die weltordnende Großerzählung, das erste bundesdeutsche Narrativ, habe nur eine vertraute Struktur aktiviert, den „Primat des Staates in nationalhistorischer Tradition“. So wie Politik und Wirtschaft die Wiederherstellung von Zerstörtem betrieben, habe die Historikerschaft das „schwarz-weiß-rote Geschichtsbild“ der Weimarer Republik erneuert. Dieses „reichsdeutsche Geschichtsbild“ sei in die politische Wirklichkeit des schwarz-rot-goldenen Gemeinwesens einfach „hineinmontiert“ worden und habe eine positiv konnotierte nationalstaatliche Kontinuität konstruiert, von Bismarck zu Adenauer, auch weil sie sich vorzüglich eignete, den gesamtdeutschen Anspruch und die Bonner Wiedervereinigungspolitik zu legitimieren. 

Deutsche Identität nur noch als „Haftungsgemeinschaft“

Dieses „klassische nationalstaatliche Narrativ“ blieb für Doering-Manteuffel auch in den 1970ern und 1980ern in Kraft, obwohl die sich nach 1975 verdichtende „Krise der Staatlichkeit“ zur Erweiterung des Identitätsangebots zwang, hin zu den Regionen, einschließlich Preußens, und zu Europa, das jedoch gleichfalls eher als „Europa der Regionen“ das nationale Narrativ ergänzte.

Spätestens hier verliert die Argumentation erheblich an Stringenz. Denn der kollektive Identität stiftende Primat des deutschen Nationalstaates wird im Narrativ dieser Vorlesung bereits viel früher, in der Zeit des „Wirtschaftswunders“ in Frage gestellt. Je weiter Westintegration und ökonomischer Aufschwung damals vorankamen und die „ideelle Westorientierung einflußreicher intellektueller Eliten über die Medien zur Entstehung eines atlantisch-liberalen Meinungsklimas beitrugen, desto fremder wirkte das schwarz-weiß-rote Geschichtsbild“. 

Das „historische Bewußtsein“, korrekter wohl: das Bewußtsein der Historiker, hätte dann mit 20jähriger Verspätung den Abschied von der Nation zugunsten von Region und Europa, die Abwendung von Staat und großer Politik hin zu Sozial-, Alltags-, Mentalitätsgeschichte vollzogen. Noch verwirrender wird der Gedankengang, wenn Doering-Manteuffel sich mit den geschichtspolitischen Debatten im Jahrzehnt vor dem Mauerfall befaßt, die er nur als „irrlichterndes Vexierspiel um die deutsche Identität“ wahrzunehmen vermag. Jedenfalls habe der 1986 entfesselte „Historikerstreit“ die positive Sinnressource Nation endgültig ausgetrocknet, um deutsche Identität lediglich in der „Haftungs- und Verantwortungsgemeinschaft“, in der Negation der Nation zuzulassen.

Da der Staat im letzten Jahrzehnt vor dem Mauerfall ohnehin schon unter die Räder der Fahrt aufnehmenden Globalisierung, der „Nationen übergreifenden Dynamik der Finanzindustrie“ gekommen sei, setzte sich als neues Ordnungsmuster der „Markt“ durch. Dessen „Sozialkultur des Subjektivismus“ empfiehlt den vom nationalstaatlichen und bald auch vom demokratisch verfaßten Wir befreiten „Ich-AGs“ arbeitsmarktkonforme Selbstoptimierung. Sie verzichtet deswegen sukzessive, was Doering-Manteuffel nicht bemerkt, auf Sinnstiftung durch Historiker. Ob antiglobalistische, linke Gegenideologien das manifeste menschliche „Bedürfnis nach Bindung und Gemeinschaft“ besser befriedigen als der vielgeschmähte Nationalstaat, verrät der Tübinger Zeithistoriker nicht.