© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/18 / 01. Juni 2018

Den eigenen geistigen Kreml festigen
Aufruf zur Selbstverteidigung: Der russische Philosoph Iwan Iljin gegen das Appeasement der Moralisten
Dimitrios Kisoudis

Iwan Iljin gilt als Putins Lieblingsphilosoph. Der russische Präsident zitiert den Staatsphilosophen der Zwischenkriegszeit in Reden an die Nation und läßt dessen Bücher an Regierungsbeamte verschenken. Iljins Buch „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“ gibt dem orthodoxen Staatsmann eine Richtschnur für Gefahrensituationen an die Hand. 

Wer das Schwert gegen das Böse erhebt, muß „besondere geistige Anstrengungen zum Schutz seines eigenen geistigen Kremls“ ergreifen. Der Kampf zwingt den Staatsmann dazu, sich in das Böse hineinzuversetzen, um es wirkungsvoll bekämpfen zu können. Die Bereitschaft, „Kraft“ anzuwenden, wie Iljin die Gewaltanwendung im Dienst des Guten nennt, gehört zur „Bürde der Staatlichkeit“. „Den staatlichen Kampf gegen die Übeltäter zu führen, ist eine notwendige und geistig richtige Aufgabe, doch die Wege und die Mittel dieses Kampfes können und werden notwendigerweise ungerecht sein.“

Iljins Buch stellt den Pragmatismus auf eine ethische Grundlage und gibt Antworten auf hoch aktuelle Fragen der Gefahrenabwehr. Es steht in der Tradition christlicher Staatslehren, in denen der Staat mit der Erbsünde begründet wird. Obwohl 1925 in Berlin erstveröffentlicht, zeichnet das Buch ein originalgetreues Bild des Gutmenschen und widerlegt dessen unrealistische und selbstgerechte Moral. 

Der Gutmensch ist bei Iljin identisch mit Leo Tolstoj, der Gewaltfreiheit gegenüber dem Bösen gepredigt hat. Der sentimentale Moralist, so nennt Iljin den Jünger des Schriftstellers, geht bei der Betrachtung des Bösen von eigenen inneren Zuständen aus. Wenn das reale Böse dann in seiner Lebenswirklichkeit auftaucht, verschließt er davor die Augen. Noch bei der „Vergewaltigung eines Kindes durch eine bestialische Schar“ preist sich der sentimentale Moralist „seiner moralischen Unfehlbarkeit“, statt die Übeltat mit Waffen zu stoppen.

Es sei Tolstojs unorthodoxe Interpretation des Christentums als einer absolut pazifistischen Religion gewesen, die eine ganze Generation von Intellektuellen wehrlos gemacht und so die bolschewistische Revolution ermöglicht habe. Was nämlich bedeutet Widerstandslosigkeit im Sinne eines Fernbleibens jeglichen Widerstands? „Dies würde bedeuten, daß das Böse willkommen wäre: Es würde auf die Art willkommen, daß man es in sich hereinläßt, und ihm Freiheit, Stärke und Macht erlaubt.“ 

Gerade daß der historische Hintergrund nur durchscheint, macht Iljins Buch für uns so brauchbar. Der sentimentale Moralismus kennzeichnet auch das heutige Deutschland. „Refugees welcome“, der Staat läßt unbekannte Muslime in siebenstelliger Zahl ins Land, ohne Widerstand zu leisten oder auch nur geltendes Recht anzuwenden. Sogar wenn sich diese Personen, die man naiv für „Flüchtlinge“ halten wollte, als Gefährder und Terroristen erweisen wie Anis Amri, halten Politiker und Medienklatschende an ihrer realitätsuntauglichen Pseudo-Moral fest.

Die Anzahl islamistischer Gefährder ist von 2015 bis heute von 266 auf 760 gestiegen. Die Sicherheitsbehörden haben sogar eingestanden, daß sie diese potentiellen Terroristen nicht lückenlos überwachen können. Das einzig verhältnismäßige Mittel zur Gefahrenabwehr wäre also, sie in Gewahrsam zu nehmen oder, in Iljins Worten, mittels physischer Nötigung und Unterdrückung an der Ausübung ihrer Tat zu hindern. Nicht um sie für etwas zu bestrafen, was sie nicht getan haben, sondern um zu verhindern, daß sie das Böse ihrer Seele in der äußeren Welt realisieren.

Was tun die Tolstojs unserer Zeit? Sie verteidigen wie Iljins Moralisten die „Freiheit für den Übeltäter“. Nein, entgegnet Iljin, das Böse dürfe sich nicht ausbreiten: „Niemand hat das Recht, Übles zu tun und sich Heiligtümer aus der Freiheit des Übeltäters zu erschaffen.“ Es verwundert nicht, daß die meisten Kritiker im sozialistischen Rußland und der linksliberalen Emigration auf Iljins sachliche Argumentation mit denselben Verdrehungen und Unterstellungen reagierten, mit denen heute linke Parteien – von der Linkspartei bis zur CDU – auf Gesetzesinitiativen zum Gefährdergewahrsam reagieren.

Wer dem Bösen keinen Widerstand leistet, gewährleistet dessen Sieg, so Iljin. Denn jeder böse Akt führt zur Ausbreitung des Bösen in den Seelen. Deshalb sei der Kampf gegen das Böse in der Seele dem physischen Kampf auch übergeordnet. Nur wenn es unbedingt nötig sei, müsse bösen Menschen durch Freiheitsentzug oder mit dem Schwert Einhalt geboten werden. Iwan Iljin entfaltet eine überzeugende Lehre der Verhältnismäßigkeit. Er läßt den Leser die pragmatische Argumentation ungestört nachvollziehen, um gegen Ende den Schleier über dem orthodoxen Kern des Buchs zu lüften. 

Der Widerstand gegen das Böse ist „der aktive, organisierte Dienst am Werk Gottes auf Erden“ und könne nur ausgeführt werden, wenn Staat und Kirche der orthodoxen Lehre gemäß symphonisch verbunden seien. Bekämpfen wir das Böse heute nicht, weil uns der gesunde Menschenverstand abgeht? Oder tun sich atheistische Staaten und Gesellschaften schwer darin, weil ihnen der Sinn fürs Gute fehlt? Das katholische Bayern ist das einzige Bundesland, das für Gefährder einen Gewahrsam vorsieht, solange die Gefahr anhält. Ob das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz akzeptieren wird?

Der christliche Kämpfer gegen das Böse steht fest im Sumpf, wo andere versinken. Iljin vergleicht ihn mit den Engeln, die die himmlische Fülle verlassen, um „gemäß dem Willen Gottes auf die Erde zu fliegen, indem sie den Übeltätern das Gericht, die Strafe und das Feuer des göttlichen Zorns bringen“. Iljins Buch ist weniger für den Zaren geeignet, der aufgrund einer dynastischen Abfolge herrscht und sich dabei auf einen funktionsfähigen Beamtenapparat und ungebrochene Traditionen stützt. 

Dieses Buch ist ein Spiegel für den Präsidenten, der Entscheidungen aus dem moralischen Nichts heraus zu treffen hat. Die Gefahrenabwehr ist dabei nachrangig. Am wichtigsten ist es, den geistigen Kreml zu festigen. Oder den geistigen Reichstag, falls dieser Vergleich statthaft ist.

Adorján Kovács (Hrsg.): Iwan lljin.Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Edition Hagia Sophia, Straelen 2018, gebunden, 424 Seiten, 27,50 Euro