© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

Pankraz,
J. H. Mackay und das Regime der Mehrheit

Für die Politologie ist die Sache klar, für die reale Politik ist sie unklar und wird immer unklarer. Für die Politologen gibt es in der Demokratie drei Grundgewalten: erstens die Legislative, welche die Gesetze macht und der jeweiligen Opposition die Chance gibt, sich gewissermaßen offiziell zu Wort zu melden, zweitens die Exekutive, welche regiert und konkrete Entscheidungrn trifft, drittens die Judikative, welche darüber wacht, daß die Gesetze beim Regieren auch ordentlich eingehalten werden. In der politischen Praxis aber vermischen sich diese Grundkompetenzen dauernd und sorgen für Unruhe.

Es gibt in den meisten demokratischen Verfassungen auch noch einen monarchischen Überrest: den Staatspräsidenten, welcher gewissermaßen den „Draht nach oben“ verkörpert und sowohl der Gesetzgebung wie dem Regieren metaphysische Weihen verleiht. In den USA oder in Frankreich ist dieser Staatspräsident laut Verfassung mit dem wirklichen Regierungschef identisch, anderswo, beispielsweise in Deutschland, hat er buchstäblich nichts zu bestellen; er ist reine Repräsentationsfigur und muß sich  in seiner abgehobenen Rhetorik davor hüten, dem jeweiligen  Regierungschef in die Quere zu kommen. 

Wie die gegenwärtigen Vorgänge in Italien zeigen, kann es dabei zu erheblichen Differenzen kommen. Zu den Pflichten des Staatspräsidenten gehört es üblicherweise, eine neu gewählte Regierung – nach dem Vorbild der englischen Königin – mit feierlichem Pathos zu ernennen, zuerst natürlich den Ministerpräsidenten, aber dann auch jeden von diesem ausgewählten Minister extra noch einmal. Roms Staatspräsident Sergio Mattarella nun, ein erklärter Gegner der „populistischen“ Parlamentsmehrheit, ernannte zwar den Ministerpräsidenten, doch nicht jeden seiner Minister. Er löste damit eine veritable politische Krise aus.


Hat Mattarella mit seinem Manöver die ihm verfassungsmäßig zugeteilte Kompetenz bewußt überschritten? Und warum hat die neue Regierung in spe sich so schnell seinem negativen Ernennungsspruch gefügt? Gewiß, die sie bildenden Parteien mögen sich vermehrten Zuspruch bei den nun anstehenden Neuwahlen erhoffen, so wie Mattarella seinerseits auf Zeitgewinn für die von ihm abgesegnete bürokratische „Übergangsregierung“ spekuliert. Aber die Idee vom Wesen der Demokratie als einem gut funktionierenden System aus Legislative, Exekutive und Judikative ist dadurch von beiden Seiten schwer beschädigt worden.

Hatten die alten, hochgelehrten Anarchie-Denker vom Schlage Max Stirners oder John Henry Mackays vielleicht doch recht, wenn sie behaupteten,  daß Demokratie und Anarchie einander ausschlössen? Demokratie, so Mackay in seinem Buch „Der Puppenjunge“ von 1926, sei eine Herrschaftsform wie jede andere, Anarchie hingegen sei die Überzeugung, daß der moderne, mit Technik und Zeitungen ausgerüstete Mensch keinerlei Herrschaft über sich nötig habe, um gut und frei leben zu können. Gerade die Herrschaft der Mehrheit könne eventuell die größten Beschwerden und Irritationen mit sich bringen.

John Henry Mackay  (1864–1933) war ein reicher Herr aus alter schottisch-deutscher Familie, der sein gesamtes ererbtes Vermögen in der Inflation von 1923 verlor; das dürfte ihn besonders empfindlich gegenüber der neuen Republik im Nachkriegsdeutschland, der „Herrschaft der Mehrheit“, gemacht haben. Im übrigen gilt: Nur ein exorbitant reicher Zeitgenosse kann sich der Illusion hingeben, daß eine Gesellschaft ohne Herrschaft möglich sei. Denn die Herrschaft, die Hierarchisierung und die Pivilegierung von einzelnen, ist ein Grundprinzip des Seins, ohne das es überhaupt kein Leben gäbe.

Und es gilt auch: Die Herrschaft der Mehrheit, also die Demokratie mit ihren terminlichen Mehrheitsermittlungen und ihren politischen Kompetenzaufspaltungen in Legislative, Exekutive und Judikative liefert gewiß nicht das schlechteste Modell für Herrschaftsausübung. Sicherlich, sie kann entarten, ist nicht gefeit gegen Korruption, Vetternwirtschaft oder Überbürokratisierung, doch in ihrem Rahmen sind am ehesten dauerhafte Korrekturen möglich, die Schaffung und Sicherung transpolitischer Freiräume, die Freiheit von Forschung und Lehre, Kunst und Unterhaltung.


Die größten Gefahren, die ihr drohen, entspringen aus ihr selbst, da hatte John Mackay nur allzu recht; freilich teilte er seine Befürchtungen mit vielen anderen Geistesgrößen seiner Zeit, mit Alfred Döblin zum Beispiel, mit dem er oft in Berlin zusammenkam. Beide, Döblin wie Mackay, warnten unermüdlich vor den Folgen der „Vermassung“, die in jeder Demokratie nur allzu nah vor der Tür stehe. Man denkt nicht mehr selber, sondern plappert nur noch nach, man wird unempfindlich für exklusive Reize und Einfälle, richtet sich bloß noch nach dem, was „alle tun“ und für richtig halten. 

Alles hat eben seine guten und seine schlechten Seiten, und je „massenhafter“ eine Angelegenheit wird, um so „zudringlicher und gemeiner“ (Döblin) wird sie. Und wenn Mackay wirklich geglaubt hat, ausgerechnet „Technik und Zeitungen“ könnten ihn am besten vor der Vermassung bewahren, so wurde er gleichsam selber zu einem frühen Pionier dieser Vermassung. Technik und Zeitungen (heute würden wir sagen: „Digitalisierung und Medien“) haben sich im Gegenteil inzwischen als die wirksamsten, folgenreichsten Hebel der Vermassung herausgestellt.

Italiens Staatspräsident aber hat sich tatsächlich wenn nicht als Wegbereiter des Anarchismus, so doch als eine führende Figur der durch Medien und Internet  beförderten Vemassung Europas herausgestellt. Er hält sich jetzt vielleicht allen Ernstes für einen der Retter des Euro, der EU, Europas. Doch im Grunde hat er nichts anderes getan, als Italien und also auch Europa noch ein paar Zentimeter weiter in den Brüsseler Sumpf aus  Gleichmacherei und Überbürokratisierung hineinzuziehen. Ob seine „populistischen“ Widerparts etwas daran ändern werden?