© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/18 / 08. Juni 2018

„Eine einzige große Show“
Erinnerungen: Ein hochkarätig besetztes Podium diskutierte in der Bibliothek des Konservatismus die Frage, ob die Revolte von 1968 einen Kulturbruch bewirkt hat
Christian Dorn

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“: Wenngleich das Hölderlin-Zitat in der jüngsten Diskussion zum „Kulturbruch ’68“ in der Berliner Bibliothek des Konservatismus niemand verwendete, wehte dessen Geist doch über der Podiumsdiskussion, die am 30. Mai – dem 50. Jahrestag der Verabschiedung der Notstandsgesetze – stattfand. Insofern müssen die hier geäußerten Befunde des Bestsellerautors („Der Brand“, „14/18. Der Weg nach Versailles) und einstigen APO-Aktivisten Jörg Friedrich, dem zufolge der Begriff der „Nation aktuell keine Rolle spielt“,  oder der Publizistin Cora Stephan, die „einfach traurig“ ist über „so ein totes Volk“ wie die Deutschen, nicht das letzte Wort bleiben.

Hoffnung machte gerade die offene, vielstimmige Diskussion, an der auch die Publizistin Bettina Röhl und der Sozialwissenschaftler Gerd Held teilnahmen, indem sie die tabuisierte Wirkungsgeschichte des Jahres 1968 in den Blick nahm. Dabei brachten gerde die divergierenden Sichtweisen auf die Revolte einen Erkenntnisgewinn, zumal das Phänomen ’68 nur in seiner Mehrdimensionalität zu begreifen. 

Deutschland galt als „verbrannte Erde“ 

So meinte die Historikerin Cora Stephan, die aus London ihren ersten Minirock mitbrachte, daß die 68er-Jugend erstmals eine eigene Mode und eine eigene Musik besessen habe – in einem Ausmaß wie keine Generation zuvor. Dies korrelierte laut Friedrich mit einer Flucht vor Deutschland, dessen Landschaft und Kultur als „verbrannte Erde“ galten, denn: „Wir sind erzogen worden von John Wayne und Coca Cola.“ Dabei sei „’68 eigentlich eine einzige große Show“ gewesen, „ich sag mal: Sportpalast“. Um sarkastisch anzufügen, wie „ungeheuerlich kreativ“ ’68 war, „diese Kinderläden, wo man mit der Scheiße spielen konnte.“ Tatsächlich sei ihr Ziel „Umerziehung“ gewesen: „Für uns war Machtergreifung das Zentrale.“

Als „Dienstältester“ der Runde war es auch an Friedrich, seine Bekehrung zu bekennen. Beispielhaft für den Bruch seien die zahlreichen Lebens- und Bewußtseinslügen gewesen. So hätten sie ihre Solidarität mit allen Unterdrückten auf der Welt erklärt, nur für ein einziges Volk hätten sie sich nicht interessiert: „nicht für das einen Kilometer weiter östlich.“ Weitere Widersprüche seien der Ausdruck „Bullenschweine“ gewesen, der dem ersten Artikel des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) zuwiderlief. Ebenso ließ sich der hehre Begriff der „Wissenschaftsfreiheit“ nicht in Einklang bringen mit dem studentischen Terror gegen die Professorenschaft. Irritiert habe Friedrich auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die sich „gegen die Befreier“ Deutschlands richtete. Beispielhaft sei auch der Umgang mit den Verbrechen gewesen: So habe Mao „nicht sechs Millionen, sondern 60 Millionen auf dem Gewissen“, aber – so die damalige Legitimation – „für die gute Sache“. Gleichwohl, so Friedrich, sei sein Weg zur Wahrheit „von Irrtum zu Irrtum“ gegangen. Noch 2015 hätte er ’68 als „spurenlosen Mummenschanz“ abgetan, um seinen abermaligen Irrtum einzuräumen: „’68 hat gesiegt.“

Für die Publizistin Bettina Röhl ist ’68 ein „Epochenwechsel“, dessen Ausläufer in immer neuen Wellen durch die Gesellschaft jage. Sie erinnerte an die Zahl von 100.000 Mitgliedern in den K-Gruppen. Seither sei der Staat mit einem „Makel“ behaftet, weshalb sich die Leute jeweils mit der neuesten Bürgerbewegung solidarisierten. Dabei sei bereits 1966 in China von Mao der „Kampf gegen Rechts“ ausgerufen worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe heute den rot-grünen Staffelstab übernommen. Ergebnis von ’68 seien auch die „hysterisierten Debatten“ in Deutschland. 

Wirkmächtiger Begriff: „strukturelle Gewalt“

Für Cora Stephan indes erscheint die spätere Friedensbewegung ein eigenständiges Phänomen, wichtiger als die 68er-Bewegung, da dort erstmals ein einiges Deutschland gedacht wurde. Im Gegenzug sei Deutschland heute ein außenpolitischer Zwerg, ein Land, das nicht mehr außenpolitisch zu denken vermöge. Zudem entlarvte Stephan den so verhängnisvoll wirkmächtigen Begriff der „strukturellen Gewalt“, der – philosophisch verbrämt – jede linke Gewalttat legitimierte. So wurde an dem Abend auch der Fernsehkommentar des konservativen Journalisten Matthias Walden zitiert, der am 21. November 1974 zur Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann feststellte, daß der „Boden der Gewalt durch den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt“ worden sei.

Da war Stephan freilich bereits ausgestiegen. Ihre eigene Abnabelung, erklärte sie, sei bereits 1968 erfolgt durch die Niederschlagung des Prager Frühlings. Danach trennte sie sich von ihrer „MAO“, der „Marxistischen Aufbauorganisation“, denn: „Für mich hieß links sein, alles in Frage zu stellen, auch das eigene Linkssein.“ Folgerichtig habe auch ihre Dissertation über die SPD nicht zu einer Ideologisierung geführt, im Gegenteil: „Wenn man sich mit der sozialdemokratischen Geschichte beschäftigt, wird man – natürlich – nicht Sozialdemokrat.“ Das einsetzende Gelächter quittierte sie damit, daß sie doch vor allem hier seien, „um Anekdoten zu erzählen“.

Diese weiß auch der im selben Jahr (1951) wie Stephan geborene Sozialwissenschaftler Gerd Held zu berichten. Als Schüler begann sein 1968 mit einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg, bevor er sich später – als gelernter Facharbeiter – an der Gründung des KBW beteiligte. Durch seinen Berufsweg (Studium der Sozialwissenschaften, Habilitation) besitze er heute eine andere Einstellung als gemeinhin Soziologen, da er aus eigener Erfahrung in der Stadt- und Raumplanung wisse, wofür der Staat gebraucht wird. Aus seiner Sicht markiert vor allem der Akademisierungsprozeß die Folgen von ’68, so sei die Quote von zehn bis zwölf Prozent eines Jahrgangs auf heute 56 Prozent gestiegen.

In diesem Kontext verwies er auf das fundamentale Werk „Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“ des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner. Aktueller Ausweis dessen sei die Ex-Chefin des Bamf Bremen, die  „Moralisierung“ betreibe, der zufolge „das Zivilisierte, das auf Regeln setzt“, nichts mehr gelte. Hatte die Leiterin in Bremen ihre rechtswidrige Asylbewilligung doch damit begründet, „Menschen in Not“ helfen zu wollen. 

Laut Röhl hat ’68 viele Gesichter und sei daher in jedem Politikbereich zu finden. Da es gesiegt habe, sei jetzt die Zeit für die Analyse gekommen – was nicht so einfach werden dürfte, schließlich warnte Jörg Friedrich: „Es gibt doch eine Propagandashow nach der anderen.“ Dies führe zur „inneren Gleichschaltung“ und zur völligen Ausgrenzung Andersdenkender. 

Ein Video der Podiumsdiskussion und weitere Informationen über die Bibliothek des Konservatismus im Netz:

 www.bdk-berlin.org