© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/18 / 15. Juni 2018

Pankraz,
Gerald Hüther und die Menschenwürde

Zitat aus der linken Berliner tageszeitung zu der Frage, was man gegen die „Provokationen der Populisten“ tun sollte: „Vielleicht ist die einzige Währung, die dieses Milieu trifft, soziale Ächtung und die Verweigerung bürgerlicher Achtung. Kann man solche Ächtung organisieren? – Ich weiß es nicht.“

Die Überlegung hönnte leicht durch ähnliche Äußerungen aus dem aktuellen medialen Mainstream ergänzt und fortgesetzt werden. Bürgerliche Ächtung („Entwürdigung“, wie es auch heißt) von Meinungsgegnern ist „in“. Zunächst stritt man sich in der „Qualitätspresse“ bekanntlich darüber, ob man mit den „Populisten“ überhaupt reden sollte, ob man sie nicht einfach totschweigen könne. Doch bald merkte man, daß man sich mit dem Totschweigen ins eigene Fleisch schnitt, weil die Themen, um die es ging, das Volk wirklich bewegten und regelrecht nach öffentlicher Debatte schrieen.

Und man merkte weiter, daß die anderen die treffenderen Argumente hatten, gegen die man selber nur leere Phrasen in Stellung bringen konnte. Also blieb nur die persönliche Diffamierung des Meinungsgegners, und da es in den allermeisten Fällen nichts zu diffamieren gab (außer eben der abweichenden Meinung), kam man schließlich auf die uralte, vorzivilisatorische Methode der sozialen und bürgerlichen „Ächtung“ zurück. Diese Art der Ächtung, so hofft man jetzt offenbar, ist das einzige noch verbliebene Mittel, um à la longue an der Herrschaft zu bleiben.


Es kommt dabei darauf an, den zu ächtenden nicht nur aus der Politik auszuschließen, sondern aus jeder nur denkbaren Form von Gemeinschaft, insbesondere aus jenen Formen, die sich gewissermaßen „von selbst verstehen“, zum tagtäglichen Leben einfach dazugehören und die normalerweise jenseits jeglicher Differenzierung liegen. Zur Verbildlichung dieses Zustands würde Pankraz etwa an Arthur Schopenhauer erinnern, der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts jeden Mittag mit seinem Pudel im Hotel Englischer Hof zu Frankfurt am Main erschien, um dort sein Dinner einzunehmen. 

Der Mann war wegen seiner scharfen Formulierungen bekannt und in der Stadt vielfach umstritten, speziell nachdem er den Bundestruppen während der Revolution von 1848 aktiv geholfen hatte, die Aufständischen zu besiegen. Aber nie, auch in seinen schlimmsten Träumen nicht, hätte er sich vorstellen können, daß eines Tages ein Kellner kommen würde, um ihm mitzuteilen, daß er ihm auf Anweisung von oben keine Speisen servieren dürfe und ihn hiermit auffordere, das Lokal umgehend zu verlassen. Es gab ja nicht die geringste rechtliche Handhabe für eine solche Zumutung!

Aber Recht hin oder her – genau auf solche Zumutung läuft die von der taz angepeilte Organisation von sozialer und bürgerlicher Ächtung hinaus. Es sind, wie gesagt, vorzivilisatorische Praktiken, wie sie in neuerer Zeit wohl als erster Alexis de Tocqueville (1805–1859) anleuchtete, als er in seinem Amerikabuch auf die Zustände in der Trappergesellschaft des „wilden Westens“ zu sprechen kam. Dort waltete ungeniert das Prinzip der rechtsfreien Ächtung. Wem der Kneipenwirt einen Whisky verweigerte, der war fortan vogelfrei und abschußreif.

Von Menschenwürde war nicht die Rede. Aber auch im christlichen beziehungsweise später von Aufklärung und Positivismus geprägten europäischen Abendland kam der Begriff nicht vor. Es wimmelte zwar von allen möglichen via Politik oder Wissenschaft verliehenen Würden, aber eine spezielle Menschenwürde kam lange Zeit nicht vor. Jeder Mensch genoß gewisse Menschenrechte, doch „würdig“ war er deshalb nicht automatisch, trotz Immanuel Kants „Praktischer Vernunft“. Würde hatte man nicht von Natur aus, sondern man mußte sich um sie Mühe geben, sie wurde einem extra verliehen.


Selbst bei Kant, in dessen Werk das Wort „Menschenwürde“ zum ersten Mal plakativ vorkommt, bezeichnet es keine natürliche Eigenschaft, sondern eine Aufforderung an jeden einzelnen von uns, sich zusammenzunehmen; es steht nicht für ein reales Sein, sondern für ein ideelles Sollen. Erst in allerneuester Zeit wird diese wichtige Unterscheidung verdunkelt und weggeredet. Die Menschwürde, so predigt man nun, wird einem als Geschenk der Natur in die Wiege gelegt; sie gilt nicht mehr als Tugend, sondern als „Wert“, den man – wie alle „Werte“ – unter Umständen auch eintauschen und zu Geld machen kann.

Beleg dafür ist auch das neue Buch des umtriebigen, in vielen Sätteln gerechten Göttinger Psychologen Gerald Hüther, „Würde“ (Knaus Verlag, München 2018, gebunden, 192 Seiten, 20 Euro), das sich die größte Mühe gibt, die Menschenwürde gleichsam mit einer biologischen Unterlage zu versehen, gehirnliche Nervenzellen nachzuweisen, die für die Würde verantwortlich sind wie andere für logisches Denken. Nachgewiesen wird freilich gar nichts, lediglich deutlich gemacht, daß der Mensch ein leibgeistiges Doppelwesen ist, mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf im Himmel.

Trozdem lohnt die Lektüre von Hüthers Buch allemal, findet Pankraz, man liest darin so manchen feinen Satz etwa über Kindererziehung oder gediegenen öffentlichen Umgang miteinander. Für die Etablierung einer Organisation zur sozial-bürgerlichen Ächtung, sprich: mechanischen Entwürdigung von Meinungsgegnern findet sich darin nicht die geringste Spur, ganz im Gegenteil.

Der wuchtige erste Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,  stimmt bekanntlich leider nicht; die Würde ist überall nur allzu antastbar. Aber den zweiten Satz, kann sich sogar der offen nichtwissende Autor der taz hinter die Ohren schreiben: „Sie (die Würde, Anm.) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und nicht nur staatlicher, wäre hinzuzufügen. Denn wie schrieb dereinst unser aller Dichter Friedrich von Schiller? „Die Würde ist Ausdruck einer erhabenen Gesinnung“ (aus „Über Anmut und Würde“, Mannheim 1793).