© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Weiter, unaufhaltsam weiter
JF-Reportage aus Bosnien: Tausende Migranten ziehen auf der neuen Balkanroute nach Norden
Hinrich Rohbohm

Umar hätte es fast geschafft. Der Afghane war über die neue Balkanroute bis über die slowenische Grenze gelangt. Für ihn die letzte Hürde auf dem Weg in den Schengen-Raum. „Ich bin über die Berge nach Slowenien gekommen. Doch dann bin ich beim Klettern abgestürzt.“ Er verletzte sich so stark, daß er nicht mehr weiterkonnte. Grenzschützer hatten ihn gefunden und nach Kroatien zurückgewiesen. Die Kroaten schickten ihn nach Bosnien-Herzegowina zurück.

Jetzt kampiert Umar gemeinsam mit Tausenden weiteren Migranten auf einer Wiese hinter dem Sportplatz von Velika Kladuša, einer 45.000-Einwohner-Stadt an der bosnisch-kroatischen Grenze, die in österreichisch-ungarischer Zeit Groß-Kladuß hieß. Seine Beine sind mit einem Verband umwickelt. Gelber Eiter leckt durch den Stoff. Um ihn herum stehen weitere Migranten vor den Zelten. „Inzwischen gibt es hier etwa 100 davon“, sagt Umar. Jedes mit fünf bis acht Leuten belegt. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Hilfsorganisationen bringen Planen und Holzlatten, mit denen die Einwanderer zusätzliche Zelte bauen.

In Sarajevo treffen Illegale auf ihre Schleuser

Zahlreiche weitere Migranten haben sich in verlassenen Häusern einquartiert. Andere konnten bei Einheimischen eine vorübergehende Bleibe finden. „Sie lassen sie auf ihren Balkonen, Terrassen oder im Garten kampieren“, erzählen Ariana und Sara, zwei Schülerinnen aus der Stadt. Die beiden schätzen, daß sich derzeit etwa zwei- bis dreitausend Migranten in der Stadt aufhalten. Auch der Inhaber einer Pizzeria hat einige bei sich aufgenommen. Seine Restauration ist zu einem ihrer Treffpunkte geworden, bis zu 50 von ihnen sitzen tagsüber vor der Wirtschaft.

Seit durch die Intervention des heutigen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz die alte Balkanroute weitgehend geschlossen wurde, suchen sich die Einwanderer neue Wege, um in den Schengen-Raum der EU zu gelangen. Sie wagen die gefahrvolle Überquerung des türkisch-griechischen Grenzflusses Evros, ziehen weiter über Nordgriechenland nach Albanien, wo Schleuser sie über die Grenze nach Montenegro und weiter nach Bosnien-Herzegowina bringen.

Eine wichtige Durchgangsstation ist dabei die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Iraner können beispielsweise ohne Visum in das Land einreisen, kommen über den Luftweg legal dorthin. Sogar Afrikaner nutzen dieses Einfallstor. „Ich bin mit dem Flugzeug von der Elfenbeinküste nach Sarajevo gekommen und dann weiter nach Velika Kladuša gezogen“, erzählt einer der JF, der seinen Namen nicht sagen will. Während er fotografiert wird, kreuzt er die Finger. „Das heißt soviel wie ‘Afrika voran’“, bedeutet er sehr motiviert.

In Sarajevo halten sich mehrere tausend Migranten auf. Vor allem Syrer, Iraker, Iraner, Afghanen und Pakistanis. Viele von ihnen liegen im Gras unter schattenspendenden Bäumen rund um den Hauptbahnhof. Ihre Hosen sind oft zerfetzt, ihr Hab und Gut in Rucksäcken und Plastiktüten verstaut. Müll weht auf dem Bahnhofsplatz umher. Migrantenfamilien drängen sich am benachbarten Busbahnhof an einem Unterstand zusammen, warten auf die Weiterreise nach Bihac, einer Stadt nahe der Grenze zu Kroatien.

Ein Treffpunkt mit Schleusern ist der Brunnen am Marktplatz in der Altstadt. Ein gutes Dutzend Einwanderer sitzt dort Tag für Tag und wartet. Zwei weitere Migranten laufen auf dem Platz umher und telefonieren unentwegt. Schließlich winken sie einige der wartenden Männer zu sich, lotsen sie zu einem Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Mann wartet dort, spricht die Gruppe auf englisch an. „Morgen bringen wir euch weiter zu diesem Ort“, lassen sich Gesprächsfetzen erhaschen. Dann geleitet er die Gruppe zu einem Taxi. Die Migranten steigen ein. Jetzt heißt es schnell folgen. Das Taxi fährt hinaus aus dem Stadtzentrum, über die Autobahn Richtung Nordwesten. Nach einer Stunde ist klar: Die Männer fahren Richtung Bihac.

Die Stadt an der bosnisch-kroatischen Grenze, 40 Kilometer südlich von Velika Kladuša, ist von Migranten regelrecht überfüllt – auf den Straßen, in den Parks, in der Fußgängerzone. Am Fluß, dem Ufer der Una, die sich durch den Ort schlängelt. In den Cafés, den Bäckereien, den Supermärkten. Im Stadtpark gibt es kaum eine Bank, auf der nicht eine Gruppe von Einwanderern sitzt.

Gegen Abend treffen sich mehrere Migrantengruppen am Rand der Fußgängerzone. Sie haben vollgepackte Rucksäcke dabei, beratschlagen sich. Dann verlassen sie zielstrebig die Stadt, gehen hinaus in die Wildnis, in Richtung der bis zu 1.500 Meter aufragenden Berge, hinter denen die Grenze nach Kroatien liegt.

„Das geht jeden Abend so“, erzählt eine Anwohnerin. Einzelne Gruppen würden versuchen, über die Berge die Grenze zu passieren. Das Gelände ist unwegsam, gefährlich. Landminen aus dem Bosnienkrieg liegen noch umher, von steilen Hängen kann man leicht abstürzen. „Im Winter haben sie keine Chance, da rüberzukommen“, meint die Anwohnerin. Deshalb sind die Migranten erst jetzt nach Bihac gekommen. „Vor einem Monat ist das hier losgegangen“, erzählt sie. Innerhalb weniger Wochen seien immer mehr gekommen, ein Ende des Stroms nicht in Sicht.

Gegenüber einem Fußballstadion haben sich Hunderte von Migranten in einer ehemaligen Kaserne eingerichtet, zwischen Müll und zerborstenen Glasflaschen. Auch in den umliegenden verlassenen Häusern haben sich Migranten einquartiert. Einige haben drumherum im Gras unter Bäumen Zelte aufgeschlagen. Hilfsorganisationen kommen täglich vorbei, versorgen die Angekommenen mit Essen, Getränken und Kleidung. Wie viele Migranten sich aktuell tatsächlich in Bihac aufhalten, kann niemand genau sagen. Nach einem Rundgang durch die Stadt kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß es auch hier Tausende sein müssen.

Die tür- und fensterlosen Gebäude legen den Blick in gähnende schwarze Löcher frei, aus denen gelegentlich Stimmengemurmel dringt. Manchmal ist zersplitterndes Glas zu hören. Cola-Plastikflaschen stehen auf den Fenstersimsen. Nur langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Aufgetürmte Rucksäcke und Matratzen kommen zum Vorschein. Es dürften an die 50 sein. Die neuen Bewohner sind nicht erfreut über den unangekündigten Besuch, bleiben aber friedlich.

„Ja, einige sind in Richtung der Berge über die Grenze“, bestätigen sie. Einige hätten sich aus Italien gemeldet. Andere seien zurückgekommen, weil ihnen der Weg zu gefährlich war. Wieder andere seien von Grenzschützern attackiert worden. „Sie haben mich geschlagen und mein Mobiltelefon zerstört. Das machen sie bei vielen“, schildert einer.

Wem die illegale Einreise nach Slowenien glückt, hat von Grenzschützern anderer EU-Länder kaum noch etwas zu befürchten. An der slowenisch-italienischen Grenze etwa finden nach wie vor überhaupt keine Kontrollen statt. Und so kann sich auch Umar sicher sein: „Wäre ich nicht gestürzt, hätte ich es geschafft.“