© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Deutschland verliert den Anschluß
Künstliche Intelligenz: Forschung und Wirtschaft kritisieren die Orientierungslosigkeit der Politik
Björn Harms

Führende europäische Wissenschaftler wollen der politischen Tatenlosigkeit nicht länger zusehen. Sie schlagen Alarm: Europa hinke beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) den USA und China meilenweit hinterher, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Appell von mehr als 800 KI-Forschern, welche nun den Forschungsverbund Claire (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence in Europe) gründen wollen.

Der Zusammenschluß soll dabei helfen, Europa zu einem konkurrenzfähigen Forschungsstandort für KI-Technologien zu machen, schreiben die Wissenschaftler in ihrem Brandbrief. Denn die Investitionen in „Talente, Technologie und Innovation liegen weit hinter denen der Wettbewerber zurück“.

Merkels Empfang beim Wirtschaftsrat ist unterkühlt

Wohl kaum ein Technologiethema wird derzeit so intensiv diskutiert wie die Künstliche Intelligenz. Die abstrakten wissenschaftlich-technischen Begriffe sorgen beim Durchschnittsbürger jedoch meist nur für ein ahnungloses Achselzucken. „Deep Learning“, neuronale Netze, „Natural Language Processing“ – wer soll da noch durchblicken?

Im Fokus stehen jedenfalls keine hollywoodartigen Fiktionen, sondern handfeste wirtschaftliche Vorteile. Einer Studie der Unternehmensberatung PwC zufolge könnte die deutsche Wirtschaftsleistung mit Hilfe der Technologie bis zum Jahr 2030 um zusätzliche 11,3 Prozent oder 430 Milliarden Euro wachsen. Wie diese Vorteile in der Praxis aussehen könnten, bewiesen in der vergangenen Woche auch mehrere Firmen auf der Cebit-Messe in Hannover.

So zeigte der US-Technologiehersteller Hewlett Packard Enterprise, wie Computer in kürzester Zeit Millionen von Krankheitssymptomen aus unterschiedlichen Quellen vergleichen können, um die optimale Medikation für einen Patienten zu finden. Derartige Systeme sammeln also ausreichend Daten, die sie dann selbständig weiterverarbeiten („Deep Learning“, JF 18/18).

Bei IBM konnten die Besucher einen smarten Assistenten mit Sprachsteuerung, Kameras und Sensoren kennenlernen, der den deutschen Astronauten Alexander Gerst bei seiner Mission auf der Raumstation ISS unterstützt. Die vor 50 Jahren gegründete US-Firma Intel stellte anhand von Computerbrillen vor, wie mit modernen Algorithmen Wale geschützt werden können: Drohnen kreisen über den Tieren, um ihre Fontänen mit Sensoren zu untersuchen – die Ausscheidungen geben Auskunft darüber wie es den Tieren geht, wohin sie ziehen und wie sich ihre Umwelt verändert – und das alles in Echtzeit.

Daß sich die Politik dem Thema nicht länger verschließen kann, zeigte sich am vergangenen Dienstag auch auf dem Wirtschaftstag der CDU. Das Jahrestreffen des Wirtschaftsrats in Berlin war erneut ein hochrangiges Stelldichein aus Politik und Unternehmertum. Unter dem Motto „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Währungsunion – Zukunftsthemen anpacken, Marktkräfte stärken“ wurde auf verschiedenen Podien über den drohenden Handelskrieg mit den USA, das gemeinsame Vorgehen Europas, und eben auch über die Zukunftsmöglichkeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz diskutiert.

Letztere Themen seien Schicksalsfragen und für Deutschland „lebensnotwendig“, verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel vor rund 3.500 Zuhörern, welche die Kanzlerin zuvor relativ kühl begrüßt hatten. Auch die anschließenden Tischgespräche machten deutlich: Der politische Rückhalt im Wirtschaftsflügel der CDU schwindet. Ganz im Gegensatz zum ebenfalls anwesenden österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), dessen Rede von heftigem Applaus begleitet wurde.

Im Bereich Industrie 4.0 (JF 23/18)blicke die Welt bereits auf Deutschland, bemerkte die Bundesministerin für Forschung und Bildung, Anja Karliczek (CDU). „Das wollen wir auch bei KI erreichen.“ Bis Herbst dieses Jahres will die Große Koalition dafür einen „Masterplan Künstliche Intelligenz“ entwickeln. Demnach soll die Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft gestärkt werden und gleichzeitig die Qualifikation und Ausbildung in diesem Bereich stärker in den Fokus gerückt werden. Auch sie selbst lerne in bezug auf KI täglich neue Dinge hinzu, befand Karliczek.

Bereits im Februar dieses Jahres hatte die gelernte Hotelfachfrau in einem WDR-Interview ihre Unkenntnis bezüglich Bildungsfragen und Wissenschaft unumwoben zugegeben. Das könne ihr doch vielleicht helfen, die richtigen Fragen zu stellen, sagte sie damals. Derartige Worte müssen in den Ohren von internationalen Topmanagern wie Rüdiger Stroh wie Hohn klingen. Auf dem Wirtschaftstag rechnete der CEO des Halbleiterherstellers NXP Semiconductors gnadenlos mit den beschwichtigenden Äußerungen der Ministerin ab.

„Deutschland hinkt bei der künstlichen Intelligenz Jahre hinterher“, stellte er fest. Bereits jetzt gebe es 95.000 IT-Fachleute zuwenig. Während in Deutschland aufgrund ethischer Probleme oder des Datenschutzes „ständig Ausreden herbeigeredet würden“, investiere die chinesische Regierung zeitgleich sagenhafte 47 Milliarden Euro allein in ihre Halbleiter-Unternehmen.

„Ich finde es fast witzig“, betonte er mit ironischem Unterton. „Nur weil wir die letzten 20 Jahre mal in irgendwas gut waren, sind wir es nicht die nächsten 20.“

Die Bundesregierung führe lieber endlose Debatten über die Technologie, anstatt endlich zu handeln. Einen Zustand, den der frühere Unionsfraktionschef und heutige Blackrock-Aufsichtsrat Friedrich Merz auf dem Wirtschaftstag als „metaphysischen Tinnitus“ beschrieb. Eine zusätzliche Debatte soll bereits am Donnerstag kommender Woche stattfinden. Dann berät der Bundestag über einen Antrag der Regierungskoalition auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Potentiale“. Konkrete Handlungsmaßnahmen sind vorerst nicht zu sehen.