© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Aus Terroristen sollen Demokraten werden
Reportage: Zwei Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen Regierung und Farc-Rebellen hängt der Frieden in Kolumbien noch immer am seidenen Faden
Billy Six

Der Geländewagen quält sich durch die hügelige Urwaldlandschaft – unbefestigte Serpentinen, einsame Motorradfahrer, Soldaten auf dem Marsch. Ausbleibender Tropenregen macht die Passage möglich. Vier Stunden dauert die Anreise von der ost-kolumbianischen Großstadt Cúcuta in die abgelegene Catatumbu-Region – im Departamento Norte de Santander, unweit der Grenze zu Venezuela. Der hier konzentrierte Ressourcen-Reichtum – erste Ölförderung des Landes, Kohle, Uran, urbare Böden – trägt keine Früchte.

52 Jahre Bürgerkrieg mit 220.000 Toten haben sich in dieser besonders betroffenen Region nicht durch eindrucksvolle Zerstörungen verewigt, sondern in gravierender Rückständigkeit seiner Infrastruktur und mangelnder Besiedlung. Jahrzehntelang galt hier höchstes Sicherheitsrisiko: Entführungen, Überfälle, Hinterhalte aus dem Dschungel. Der 2016 vom scheidenden Präsidenten Juan Manuel Santos unterschriebene, seit 2010 verhandelte Friedensvertrag mit den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ (Farc), der größten Guerilla-Miliz Lateinamerikas, macht nun sogar hier neuen Straßenbau möglich.

Über 8.000 Kämpfer legten ihre Waffen nieder

Und doch haben 54 Prozent der Wähler im etwa 50 Millionen Einwohner zählenden Andenstaat am Sonntag einen dezidierten Gegner des Abkommens mit den Kommunisten zum Präsidenten gewählt: den 41jährigen Politneuling und Rechtsanwalt Iván Duque, Ziehsohn des rechtskonservativen Ex-Staatschefs Álvaro Uribe (2002–2010), der seinerseits die Farc mit harter Hand militärisch enorm geschwächt hatte.

Auf der Straße herrscht Unzufriedenheit über versprochene Zusagen an die fast 8.000 verbliebenen Kämpfer, die nach UN-Angaben mittlerweile alle Waffen niedergelegt haben: Strafnachlässe, zehn garantierte Sitze im Parlament, Geldzuwendungen – und dazu fortlaufende Untergrundaktivitäten unter neuer Flagge. Doch Rechtsanwältin Sandra Sierra widerspricht: „Wir hatten viele Probleme mit der Regierung, weil sie nicht zu 100 Prozent umgesetzt hat, was im Friedensprozeß beschlossen wurde.“

Die robuste Juristin mit kräftiger Stimme gehört zur „Koalition der juristischen Solidaritätsgesellschaft“, welche „die politischen Gefangenen der Farc“ verteidigt und die Interessen der nunmehr zivilen Partei bei der Umsetzung des Abkommens überwacht. Sie hat die Fahrt ins einstige Hinterland der Rebellen organisiert – in einem kugelsicheren Wagen, mit zwei bewaffneten Begleitern. Auch wenn immer wieder Militär und Polizei, mit Sturmgewehren ausgestattet, am Wegesrand auftauchen, so ist die nach wie vor aktive (kleinere) linke Rebellenmiliz ELN nicht unter Kontrolle, ein separates Abkommen ist auch unter Santos nicht zustande gekommen. Vor allem in der Nacht lauern Gefahren.

Jimmy Guerrero, Kommandant der „Farc-Front 33“, erscheint wie ein äquatorialer Weihnachtsmann: Zum langen weißen Bart gesellt sich ein milder, aber vom Leben doch gezeichneter Gesichtsschnitt. Er hat die Erlaubnis erteilt für den Besuch seiner „Zone der vorübergehenden Normalisierung“ (ZVTN), von denen landesweit 26 eingerichtet worden seien, so Anwältin Sierra. Sie sollen den einstigen Kämpfern einen Übergang ins zivile Leben erleichtern – in der altbekannten Kameradschaft, nur ohne Waffen. Und bezahlt vom Staat. Der Vorwurf, über Monate auch von linken Medien in Deutschland kolportiert: Die Regierung habe keinerlei Infrastruktur, Baumaterial und Gelder für die neuen Siedlungen bereitgestellt.

Zumindest hier in Caño Indio trifft diese Lagebeschreibung nicht länger zu: Kleine weiße Fertighäuser mit Wellblechdächern reihen sich Glied an Glied, dazu funktionierende Sanitäranlagen und Stromanschlüsse. Nur ein Gesundheitssystem fehlt weiterhin. Die Zahl der Bewohner dieser abgelegenen Veteranen-Siedlung ist seit Februar 2017 von 180 per Lastwagen Angekarrten auf nunmehr 50 zurückgegangen. Arbeitsmöglichkeiten scheint es keine zu geben, allenfalls Schmuggel von Benzin aus dem benachbarten Venezuela, der allerorts zu beobachten ist. Ansonsten wartet man auf Ausbildungs- und Resozialisierungsprogramme der Behörden.

Soldaten der regulären Armee sitzen als Aufpasser gelangweilt herum, unterhalten sich entspannt mit ihren Feinden von einst. Das Lager der Uno befindet sich zwei Kilometer weiter. Die einst so gefürchteten Dschungelkrieger, die seit 1964 über drei Generationen Kampferfahrung und Entbehrungen hinter sich gelassen haben, zeigen sich heute als zahnlose Tiger. Keine Uniformen, keine Waffen. Verbliebene Zeltvorrichtungen wirken wie ein nostalgischer Nachklang. Zur Begrüßung werden gekochtes Hühnchen mit Reis und Maniok gereicht – schmackhaft gewürzt, serviert in Wegwerf-Verpackung. Gekühltes Bier gibt es zur Genüge, auch Cola. Die Umgebung wirkt sauber. Die streunenden Hunde, Katzen und Hühner zeigen sich in gepflegtem Zustand.

Fragen zum Kokain-Handel werden nicht beantwortet  

Jimmy Guerrero, „der Führer“, dessen Kampfname übersetzt „Krieger“ bedeutet, ist die Lust auf ein Gespräch mit dem Journalisten aus Deutschland vergangen. Er habe keine Zeit, sagt er mürrisch – und schickt die langjährige Kampfgefährtin Catherin vor. „Ich bin eine sehr arme Frau, meine Familie ist extrem arm“, berichtet sie. Mit großen Problemen habe sie einst studiert, danach jedoch keine Arbeit finden können.

„Viel Gewalt“ durch Staat und Paramilitärs habe es gegeben: „Menschen, die sagten, was sie dachten, wurden ermordet.“ Ideologisch stehe sie auf dem Boden des Marxismus-Leninismus, habe sich 1988 dem Krieg verschrieben: „Für meine Ideale, ein besseres Land, ein gerechtes Land, mit Würde und Souveränität.“ Insbesondere die USA seien dabei der Feind wegen ihrer „totalen Einmischung, politisch und militärisch, ökonomisch, ideologisch, kulturell.“ Die am 31. Mai als erstes Land Lateinamerikas ausgerufene Mitgliedschaft Kolumbiens als „globaler Partner“ der Nato hat jedoch in der generell „Gringo-kritischen“ Gesellschaft nicht den Aufruhr ausgelöst, um dem linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro, ebenfalls ein Ex-Guerillero (aber der „M-19“), zum Durchbruch zu verhelfen.

Für die Farc als politische Partei hat sich das Demokratie-Experiment mit den Etablierten grundsätzlich als Desaster erwiesen: Bei den Parlamentswahlen erhielten sie weniger als ein Prozent der Stimmen, zur Präsidentschaftswahl stiegen sie vorzeitig aus dem Rennen. 

„Meine Zukunft ist die Partei“, so Ex-Kämpferin Catherin. „Es gibt keine individuelle Zukunft, nur eine kollektive, und diese kollektive Zukunft organisiert sich in der Partei, unserer Partei.“

Zur Verwicklung der Farc in den internationalen Kokain-Handel und über die einstige Herkunft ihrer Waffen wird Compañera Catherin eher kleinlaut. Überhaupt ist die kleine Runde auf den Plastikstühlen am Waldrand nicht zu stundenlangem Palavern bereit. Neugierige Inspektionen der Anlage und Exkursionen im weiteren Umkreis sind „aus Zeitgründen“ nicht erwünscht.

Ihre Fortsetzung findet die Recherche im Zentralgefängnis von Cúcuta. Rechtsanwältin Sandra Sierra will belegen, daß allein hier 93 Ex-Kämpfer der Farc in einer extra für sie eingerichteten Gemeinschaftszelle zwischen den Mühlsteinen der Bürokratie versauerten und von der versprochenen Amnestie  kaum profitierten. Immerhin ist ausländischer Besuch problemlos möglich.

Die Männer sind sehr redselig, freuen sich über das Interesse und beklagen vor allem mangelnde medizinische Versorgung: 500 Gefangene seien landesweit in den vergangenen vier Jahren an medizinischer Unterversorgung gestorben. Immerhin: Viele von ihnen haben moderne Mobilgeräte zur Hand, sogar Zugang ins Netz. Mit Bestechungsgeldern an die Wärter sei alles möglich, sogar der Erwerb besserer Schlafzellen und Drogen. „Eine Klassengesellschaft, auch hier!“ 

Seit 200 Jahren herrschten die gleichen reichen Familien im Land, begründen sie ihren Einstieg in den Kampf. Im ländlichen Raum sei der Staat schlicht nicht willkommen: „Er kam immer mit Repression, mit Terrorismus. Er kam nie mit Gesundheit, Ärzten, Lehrern, Schulen, Gesundheitszentren, sondern Panzern, Hubschraubern, Militärs, Paramilitärs, die Terror säen, Leute töten, Bauern töten.“

Die Waffen für den Kampf seien von der Gegenseite erobert und später auch vom internationalen Schwarzmarkt gekauft worden – niemals seien direkte Lieferungen von fremden Regierungen gekommen. Finanziert habe man sich über Steuern für die Drogenbauern und -händler, aber das Geschäft nicht selbst betrieben. Entführungen seien „leider notwendig gewesen“, um die eigenen Kameraden aus dem Gefängnis freizupressen. Soweit die Selbstdarstellung.

In einem Punkt sind sich (Ex-)Guerilleros und Militärs einig: An der Front standen auf beiden Seiten stets Angehörige der Unterschicht, allenfalls noch der Mittelklasse. Dies macht nachvollziehbar, warum der Friedensprozeß in den unteren Rängen der Armee tatsächlich viele Anhänger zu haben scheint. Und dennoch: Die Farc verhandelte schließlich über kubanische Vermittlung aus einer Position der Schwäche, zurückgedrängt von einer zuletzt gut ausgerüsteten Staatsarmee und antikommunistischen Paramilitärs, die zu jeder Schandtat bereit waren. Gewalt war Teil der Lösung, genauso wie die Wirtschaftskrise im Nachbarland Venezuela.

Mit brüderlicher Hilfe aus dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist es vorbei. Ebenso mit solidarischer Dankbarkeit: Eine unbekannte Anzahl an Kämpfern der Farc – immer noch in Besitz ihrer Waffen – ist in den venezolanischen Bundesstaat Amazonas weitergezogen – und liefert sich nun Kämpfe mit dortigen Militärs und Indianern um die reichen Goldvorkommen.





Iván Duque wird neuer Präsident

Nach einem spannenden Wahlkampf steht nun fest: Der rechtskonservative Kandidat Iván Duque wird neuer Präsident Kolumbiens. In einer Stichwahl setzte er sich am Sonntag mit knapp 54 Prozent zu 42 Prozent der Stimmen gegen den Linkspopulisten Gustavo Petro durch. Duque gilt als intelligenter Technokrat. Der Jurist und Ökonom studierte mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten. Vor seinem Einzug in den kolumbianischen Senat im Jahr 2014 war er für die Interamerikanische Entwicklungsbank tätig. Im Wahlkampf versprach Duque immer wieder, den 2016 ausgehandelten Friedensvertrag mit der Farc zu überarbeiten. Auf konkrete Punkte legte er sich jedoch nicht fest. Gleichzeitig steht Duque vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen: Er muß die große Armut im Land bekämpfen, die Friedensverhandlungen mit der Guerillaorganisation ELN zum Abschluß führen, ein Rezept gegen den wieder aufkommenden Drogenhandel finden und die Probleme an der Grenze zu Venezuela lösen, wo derzeit tagtäglich Zehntausende Menschen vor dem Sozialismus fliehen. (ha)