© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Den Tag im Tag vertun
Die tüchtigen Deutschen übten sich zum Unbehagen von Goethe in forscher Gesinnungstüchtigkeit
Eberhard Straub

Je älter Goethe wurde, desto mehr verdroß ihn der „Narrenlärm unserer Tagesblätter“, bis er endlich im Frühjahr 1830 aufhörte, überhaupt noch Zeitungen zu lesen. Er fühlte sich seitdem ordentlich wohler und geistfreier. Den Verfechtern der Pressefreiheit, also vor allem Verlegern und Journalisten, die von ihr lebten, hielt er entgegen, daß es auch ein Recht gebe, sich frei von der Presse zu halten. Denn nach Pressefreiheit schreie niemand so laut, als wer sie mißbrauchen will, um andere brav zu pressen. „Kommt laßt uns alles drucken, / Und waltet für und für: / nur sollte keiner mucken, / Der nicht so denkt wie wir“, wie er in den „Zahmen Xenien“ 1821 spottete. Die Gedankenfreiheit und Pressefreiheit faßten die Deutschen, wie der freie Geist Goethe mißmutig beobachtete, als Recht auf, einander öffentlich zu mißachten und zu verleumden. 

Der Dichter, Wissenschaftler, Staatsmann und Staatsbürger erinnerte immer wieder daran, daß niemand das Recht habe, einem geistreichen Manne vorzuschreiben, womit er sich beschäftigen solle, um möglichst mit den anderen im Zeitstrom einträchtig fortschwimmen und auf diese unpersönliche Art allgemein nützlich sein zu können. In „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ wollte er 1829 hingegen darauf aufmerksam machen, „daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste“.

Damit überforderte er freilich vor allem seine liberalen Zeitgenossen. Sie spannten wohl weit ihre Arme aus, um jeden Menschenfreund brüderlich zu umfangen, ließen diese aber sinken, sobald sich ein Dunkelmann aus dem damaligen Dunkeldeutschland – ein katholischer Westfale, Bayer oder Österreicher, also  ein Reaktionär, Fürstenknecht  und  antidemokratischer Aristokrat – in ihre Arme drängen wollte. Die Toleranten verkehrten schon damals am liebsten mit ihresgleichen;  denn sie wichen, wie Goethe beobachtete, der wahren Liberalität aus, die Anerkennung voraussetzt. Toleranz und Duldung anderer Überzeugungen und Wahrheiten könne deshalb nur ein vorübergehender Zustand sein. Das widersprach der propagierten Duldsamkeit.

1821 las Goethe Clemens Wenzel von Hügels Analyse zu „Spanien und die Revolution“, welches er gleich als bedeutendes Werk anerkannte, ungeachtet, daß der Autor ein österreichischer Diplomat und gar ein Freund Metternichs war, des „Fürsten aus Mitternacht“, der Österreich unerbittlich „zum China Europas“ mache. „Seine  (Hügels) Art zu schauen und zu denken sagt dem Zeitgeist nicht zu; daher sekretiert dieser das Buch durch ein unverbrüchliches Schweigen, in welcher Art von Inquisitionszensur es die Deutschen weit gebracht haben“ – und noch viel weiter bringen sollten bis in unsere Tage. Die tüchtigen Deutschen übten sich zu Goethes Unbehagen in forscher  Gesinnungstüchtigkeit. Selbst bei hellem Mondenschein waren Nachtwächter mit Laternen unterwegs, damit auch nicht die geringste Gesinnungsschwäche unbemerkt und ungeahnt blieb. Eine solche fast lächerliche Umsicht zum Vorteil der politischen Korrektheit war bei den wenig präzisen Stimmungen einer dennoch aggressiven  Gefühls- und Erziehungspolitik unvermeidlich. 

Liberale Ideen hielt Goethe für leeren Wortschwall. Liberale, die weder befehlen noch gehorchen können, trachteten deshalb danach, alles beweglich zu halten im ewigen Gespräch, das nie zur Ruhe und zu einem vernünftigen Ende gelangt. Ideen waren für ihn konkret, substantiell, keine bloßen Stimulanzien für reizvolle Gedankenspiele oder prächtige Visionen. Ideen können in diesem Sinne, wie er meinte, gar nicht liberal sein. Kräftig, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen sollen sie sein, um produktiv zu wirken. Begriffe dürfen, wenn sie klar und verbindlich sein wollen, gerade nicht liberal sein, immer fragwürdig der dauernden Diskussion unterworfen. Liberalität gibt es daher nur in den Gesinnungen. „Gesinnungen aber sind selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht.“ Gesinnungen haben mit den Leidenschaften, Einseitigkeiten und Gewalttätigkeiten des Menschen zu tun, der als Parteigänger  zum „Übermenschen“ wird und als solcher  jede subjektive Unzulänglichkeit überwindet. 

Alerte Parteigänger sorgen für feste Entschlossenheit in der öffentlichen Meinung, wo gedankliche Unbestimmtheit die Übersicht vorläufig erschwert. Sie denken nicht so sehr an Sachen, die dem praktischen Staatsmann Goethe so wichtig waren. Vielmehr sind sie immer mit Menschen und deren Gesinnungen beschäftigt, die sie bilden, erziehen, korrigieren und kontrollieren müssen, bis sie auch noch, wenn es sein muß, die Gesinnungsschwachen im Namen der Freiheit vorübergehend von der Freiheit befreien und in hartem Konditionstraining zu ebenso selbstbewußten wie weltoffenen Sozialpartnern entwickeln. Wie es zum ersten Mal während der Terrorherrschaft 1793/94 geschah, in der sich der liberal-revolutionäre Aufbruch von 1789 konsequent vollendete. Goethe vergaß nie die Schreckensherrschaft der enthusiastischen, radikalen Menschen- und Bürgerrechtler, die wissen, wer es nicht verdient, ein Bürger und Mensch zu sein. 

Die Gesinnungstüchtigkeit radikaler Menschenfreunde führte zur Gesinnungsdiktatur der Parteigeister, die in der richtigen Gesinnung standen, wie sie zuerst die entschiedenen Linken, die Jakobiner, mit allen Mitteln medialer Erziehungsarbeit definierten und organisierten. „Allgemeine Begriffe“  – Freiheit, Gleichheit, Nation oder Menschheit – „und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten“. Diese Lehre zog er unter dem Eindruck der demokratischen Befreiung durch Erziehungsterror. Seit Napoleon und nach ihm folgten alle möglichen absolutistischen Parteiherrschaften mit ihren Führern und der jeweils geglückten Harmonisierung der Meinungsvielfalt zur einträchtigen Übereinstimmung der früher schweifenden Gemüter. Ein Ende solcher Experimente ist nicht abzusehen, denn Wertegemeinschaften bedürfen der Homogenität, um die erwünschte Gleichheit der Lebensverhältnisse und Denkgewohnheiten zu erreichen. Solche Bestrebungen mißfielen Goethe, dem Freund des Besonderen und Unverwechselbaren, des unerschöpflichen, unberechenbaren Menschen, des Ich, das stets ein Vieles ist.

Goethe versagte sich Parteien und wurde nie zu einem Parteimanne. Er fürchtete die ungeselligen Folgen der aggressiven Einseitigkeiten mit den dazu gehörenden Verdächtigungen, Verleumdungen und Gesinnungsschnüffeleien. Beides zerstörte die Geselligkeit und deren Übereinkünfte, wie er beispielhaft in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ 1795 veranschaulichte, unabhängig von politischen Interessen in unruhigen Zeiten, gesittet, im besten Sinne human miteinander zu verkehren, einander zu achten und sich nicht moralisch bewegt wechselseitig die Kleider vom Leibe zu reißen. Die Rettung geselliger Bildung als die Grundlage jeder ruhigen Bildung faßte Goethe als die Voraussetzung jeder halbwegs stabilen gesamtgesellschaftlichen Ordnung auf. 

Er leistete sich einen heilsamen, „liberalistischen Indifferentismus“, einen gleichen Abstand zu sämtlichen Ideologien mit ihren Ansprüchen und Eigensinnigkeiten. Darüber machte er sich allen sozial relevanten Kreisen voller politischen Aktivismus’ verdächtig, als  Schöngeist den Anforderungen der allerneuesten Neuzeit nicht gewachsen  und deshalb völlig unaktuell zu sein. Die Zeitungsleser und Zeitungsschreiber, ganz dem Augenblick hingegeben, kamen gar nicht zur Besinnung und Ruhe, die es ihnen ermöglicht hätte, Goethes Aktualität zu erkennen. 

Sie verhielten sich so aufgeregt und ständig alarmiert als typische Zeitgenossen einer Zeit, der Goethe 1829 vorwarf, nichts reifen zu lassen und die „im nächsten Augenblick den vorübergehenden verspeist, den Tag im Tag vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten. (…) Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt (…) und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles velociferisch.“ Der Druck der Aktualität ermöglicht keine Besinnung mehr. 

Ein jeder, zuerst und vor allem der Journalist und Parteipolitiker, ganz dem Tag verhaftet, wird zum Opfer des Tempos und des Augenblickes, in dem die Torheit, die Narrheit und die Lüge, hochtrabende Begrifflichkeiten und Sentimentalitäten das öffentliche Leben zu einer trüben Sphäre machen, in der sich „Verworrenes im Verworrenen“ spiegelt. Wahrheit und Lüge sind nicht mehr zu unterscheiden unter den systemischen Zwängen der Velocitas, der rasenden Geschwindigkeit, derer sich Luzifer, der Rebell gegen Gott und die Wahrheit,  bedient, um die globale Entwirklichung der Wirklichkeit voranzutreiben. Goethe, der aufhörte, unter solchen Bedingungen weiterhin Zeitung zu lesen, beobachtete in seiner Zeit die Vorbereitung einer Welt, die nun zur allgemein gegenwärtigen geworden  ist.