© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Dirk Jörke und Oliver Nachtwey haben ein Problem. Oder genauer: Sie behaupten, daß die SPD ein Problem habe, und zwar eins mit dem „Sozialchauvinismus“. Gemeint ist damit die erkennbare Neigung kleiner Leute, Parteien – populistischen zumal – ihre Stimme zu geben, die eine Politik der nationalen Präferenz anbieten. Die Linke habe diese Klientel verloren, weil sie sich von ihren eigenen „autoritären“ hin zu „libertären“ Positionen bewegt habe. Das ist selbstverständlich Unsinn. Vielmehr hat die Linke seit jeher ein Problem mit ihren universalistischen Postulaten, was auch das regelmäßige Umschlagen in partikularistische erklärt; Mussolini und Hitler sind dafür zwei, zugegebenermaßen extreme, Beispiele. Nur im ideologischen Rausch oder Phasen außergewöhnlichen kollektiven Wohlstands erscheint es halbwegs plausibel, daß man alle Welt durch Umverteilung gleichmachen kann. Sobald es mit dem einen oder dem anderen vorbei ist, kehrt die Einsicht wieder, daß die Ressourcen begrenzt sind und eine hinreichend konkrete Gruppe abgegrenzt werden muß, deren Glieder man als Gleiche behandeln kann. SPD-Führer der Nachkriegszeit wie Kurt Schumacher wußten das noch. Dann aber folgte man neuerlich den Sirenengesängen der Utopisten und probierte es mit Allbeglückung – mit den erwartbaren Konsequenzen.

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Veränderte Sicherheitslage: Früher waren nur die Räuber maskiert, heute sind es auch Gendarmen.

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Erfrischend: Die resolute alte Dame, die den Knirps an den Schultern faßt und ihn sanft, aber unnachgiebig von seinem Platz in der U-Bahn hochzieht, nachdem er sich unmanierlich gezeigt und ihr den Sitz nicht freiwillig angeboten hatte.

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Loyalität kann nicht nur brechen, sie kann auch auslaugen.

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Arte hat die BBC-Serie „Three Girls“ ausgestrahlt, die sich mit jenen Migrantengangs in Großbritannien beschäftigt, die – im Regelfall weiße – Mädchen gefügig gemacht, vergewaltigt und über Jahre zur Prostitution gezwungen haben. Das Ganze ist auch deshalb schwer erträglich, weil jeder Versuch der Aufklärung oder Hilfe nicht nur an der Borniertheit der Behörden scheiterte, sondern auch am antirassistischen Konsens. Den wissen die Kriminellen für sich zu nutzen. Sie wissen, daß es zwischen ihnen und denjenigen, die in Großbritannien den Ton angeben, ein objektives gemeinsames Interesse gibt, das darin besteht, die Nachfahren derer, die schon länger dort leben, niederzuhalten und auszubeuten. Allerdings überspannten sie den Bogen, was zuletzt doch die Justiz auf den Plan rief. Aber man täusche sich nicht. Die Vorgänge haben nichts Zufälliges, sondern etwas Symptomatisches. Das spricht für eine kalte Deutung des Geschehens, die von einer völlig anderen als der immer wieder bejammerten „Spaltung“ der Gesellschaft auszugehen hat.

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Falls es irgend jemandem noch nicht klar gewesen sein sollte: „Im Frühjahr 1968 schufen radikale Gesellschaftskritik und kritische Ereignisse, die den Alltag und die normale Ordnung der Dinge durchbrachen, transitorische Momente, gekennzeichnet durch das Auftauchen der Möglichkeit des Neuen, die Wahrnehmung einer offenen Zeit. Es ist diese Öffnung eines Möglichkeitsraumes, von der die Magie, das Charisma von 1968 nach wie vor ausgeht. Die Ökonomisierung aller Teilbereiche unserer Gesellschaft sowie die sozialen und ökologischen Folgen einer Globalisierung im Geist des Neoliberalismus fordern heute – wie 1968 – zur Wortergreifung und zur Revolutionierung der Wahrnehmung heraus.“ (Ingrid Gilcher-Holtey, nicht in der taz, sondern in der FAZ vom 2. Mai 2018)

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Symptomatisch: Die wachsende Zahl der Hotels, die in der Frühe Frühlingsrollen servieren.

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Meine kleine Polemik im Hinblick auf das Gerede von der „offenen Gesellschaft“ war keineswegs als prinzipielle Absage an Karl Popper gemeint. Sein „wissenschaflicher Realismus“ berührt den Konservativen sympathisch: Alltagsverstand plus Annahme, daß die Möglichkeit sprachlicher Verständigung nur denkbar ist, wenn da etwas ist, über das man sich verständigt, plus handfeste Beweisbarkeit des Weltzugriffs erscheinen als gute Basis, um die Sophisten aller Richtungen in Schach zu halten.

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Noch ein Hinweis zur Oswald-Spengler-Rezeption: „An berechtigten Wünschen im Interesse der Volksmassen war nichts aufzugeben, sondern mit heißem Herzen der warme nationale Ton anzuschlagen, der in den Tagen deutscher Not geboten war. Spenglers Idee in ‘Preußentum und Sozialismus’ ... hatte ich gewissermaßen im Blute.“ (Gustav Noske, Sozialdemokrat, nach dem Zusammenbruch von 1918 erster Reichswehrminister der Republik, in seinen 1936 geschriebenen, 1947 veröffentlichten Lebenserinnerungen „Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie“)


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 6. Juli in der JF-Ausgabe 28/18.