© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/18 / 22. Juni 2018

Mechanismen einer vernunftbefreiten Hypermoral
Der britische Journalist Derek Turner hat eine Dystopie über die wehrlose Gesellschaft Europas im Angesicht der Massenzuwanderung vorgelegt
Fabian Schmidt-Ahmad

Sechs Jahre hat es für eine deutsche Ausgabe von Derek Turners 2012 erschienenem Debütroman „Sea Changes“ gebraucht. Die Zäsur durch die gewaltige Masseneinwanderung aus dem islamischen Raum in der Zwischenzeit bringt es für das deutsche Publikum mit sich, Turners dystopische Zukunftsvisionen einer Abwicklung der europäischen Zivilisation eher als romanhafte Verdichtung jüngster Ereignisse zu lesen. Es zeichnet die Qualität des Buches aus, daß sein Alter kaum zu spüren ist und es auch dieser Rolle gerecht wird.

Großes Vorbild des gebürtigen Iren ist Jean Raspails Roman „Heerlager der Heiligen“ (JF 12/06; JF 43/15), den jener nach eigenen Angaben mit Anfang Zwanzig verschlungen hatte. Hier wie dort ist der Zusammenbruch Europas unter dem Ansturm der zu vielen beschrieben. Beide Autoren beginnen mit einem symbolisch aufgeladenen Schiffsunglück und beschreiben luzide die Mechanismen einer vernunftbefreiten Hypermoral, die das Ereignis als Projektionsfläche pseudohumanitärer Selbstverherrlichung nutzt. 

„Das schlechte Gewissen des Nordens zuspülen“

Turner, Journalist und langjähriger Herausgeber des konservativen Periodikums Right Now!, läuft in der boshaften Beschreibung der britischen Presselandschaft zu Höchstform auf. Kitsch, Kommerz, Politgeschacher, linkes Doppeldenken und Zynismus werden hinter der Maske der Hypermoral kenntlich. Erzählerische Klammer ist bei Turner die Gestalt des Ibrahim Nassouf, dessen Exodus aus dem Irak in sein Traumland Großbritannien sich als roter Faden durch das Buch zieht. Hier wird der Unterschied zum „Heerlager der Heiligen“ ersichtlich.

Während bei Raspail der Widerspruch in der europäischen Individualentwicklung auf der einen und der indifferenten Menschenvermassung des hereinbrechenden Kollektivs auf der anderen Seite besteht, ist das bei Turner weit weniger eindeutig der Fall. Denn Turner greift sich das Einzelschicksal des Ibrahim heraus, läßt diesen diffizil über den eigenen Entwicklungsgang reflektieren, während die anderen Protagonisten im wesentlichen mit Neurosen beschäftigt sind, mit Ausnahme des bodenständigen Bauerns Dan Gowt. 

Selbst Turners Alter ego, der sich in den Zynismus flüchtende Journalist Albert Norman, wirkt unstet. Dadurch wird Ibrahim zum eigentlichen Romanhelden, der als einziger ein klares Ziel hat, auch wenn dieses Ziel nur eine Fata Morgana ist. Aber immerhin erreicht er dadurch etwas. Der blindwütige Aktionismus seiner Förderer dagegen ist völlig steril, schafft nichts, sondern vernichtet nur. So ist Ibrahim der einzige, der vorwärtskommt, bis er dann – nur materiell deutlich besser gestellt – in gewohnter Trägheit verharrt, während sich sein Traumland zunehmend als Land der Deppen offenbart.

Grandios, wenn Turner sich den Irrsinn am Strand versammeln und Teddybären an rosa Herzchenballons aufsteigen läßt, um eines rassistischen Pogroms zu gedenken, das hier gar nicht stattfand. „Jeder der Kirchenmänner hielt eine kurze Rede vor der Trauergesellschaft, die unter farbenfroh gestreiften Regenschirmen Schutz suchte. Ihre konfessionellen Unterschiede waren aufgehoben und gingen in der größeren Geschichte einer Riesenwelle des Elends unter, die durch die heißen Länder schwappte, um ihre mittellosen Opfer auf das schlechte Gewissen des Nordens zuzuspülen.“

Einen metaphysischen oder gar religiösen Zusammenhang wie Raspail bietet Turner nicht an. Hier sind alle nur Figuren eines Schachspiels ohne höheren Sinn, das seine eigene Logik bis zum kläglichen Ende abspult. Kein großes Finale, ein jämmerliches Dahinsterben und Versickern von dem, was einst Eu-ropa war. „Über den Grenzen seines Landes, die so lange bestanden hatten und klar bestimmt gewesen waren, lag ein Schatten“, läßt Turner zum Schluß Dan sinnieren. „Er war der letzte seiner Art, und wenn er fort war, wie lange würde man sich dann noch an ihn erinnern?“

Derek Turner: Sea Changes.  Jungeuropa Verlag, Dresden 2018, gebunden, 464 Seiten, 24 Euro