© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Nesthäkchen aus Nahost
Prozeß: Weil er einen Mann mit Kippa geschlagen hatte, verurteilt das Landgericht Berlin einen jungen Syrer zu einem Monat Jugendarrest
Martina Meckelein

Der Saal 700 im Landgericht Moabit wirkt in seinem wilhelminischen Bombast einschüchternd. Und genau das soll er auch. Da sitzen die Angeklagten, wie arme Sünderlein, in rechteckigen Glaskästen, ohne direkten Kontakt zu ihren Verteidigern. Von der Decke baumelt ein riesiger Kronleuchter.

Draußen vor der mächtigen Flügeltür auf den Treppenstufen stehen Journalisten eng beisammen. Medienaufmarsch! Diesmal wird hier ein in Deutschland spektakulärer Fall verhandelt. Es geht um Judenhaß, um Antisemitismus auf Deutschlands Straßen. Das interessiert die Presse – und natürlich auch die Politik. Der Täter und die Tat sind hunderttausendfach im Internet angeklickt worden. 

Die Kippa zu tragen        war kein Experiment

Rückblick: Am 17. April 2018 schlägt Knaan Al S., ein 19jähriger Flüchtling aus Syrien, mit seinem Gürtel um 20.20 Uhr auf einer Straße im Prenzlauer Berg in Berlin auf den zufällig vorbeischlendernden Adam A., 21 Jahre alt und Student aus Israel, ein. Adam ist mit seinem Freund Salah S. (24), Krankenpflegeschüler und Deutsch-Marokkaner unterwegs. Beide tragen Kippa, die jüdische Kopfbedeckung. Darüber hinaus verhöhnt Knaan Al S. das Opfer als „schmutzigen Juden“, „Schlampe“,  „Hurensohn“ und „Zuhälter“.

Adam A. hatte die Tat selbst mit seinem Handy aufgenommen. Das Video wurde ins Internet gestellt. Der Aufschrei über die antisemitische Tat war enorm. Nationale und internationale Medien berichteten, Politiker meldeten sich zu Wort. Der Täter kam in Untersuchungshaft. Nun der Prozeß.

Im Saal hockt der Täter Knaan Al S. hinter Schutzglas und hält sich als Schutz vor dem Blitzlichtgewitter einen Aktenordner vors Gesicht. Um 9.34 Uhr, nachdem die Fotografen den Saal verlassen haben, darf der Angeklagte raus aus seinem Glaskasten und sich eine Bank weiter nach vorne, direkt zu seiner Verteidigerin Ria Halbritter, setzen. Er lächelt schüchtern und schaut erstaunt auf die Menschen, die seinetwegen sich hier versammelt haben. Das ist er also, der Gürtelschläger: jung, schmal gebaut. Ein staatenloser Palästinenser, der in Syrien geboren worden ist.

Oberstaatsanwalt Matthias Fenner braucht zwei Minuten für die Anklageverlesung. Die Anklage lautet auf Beleidigung und gefährliche Körperverletzung. Die gefährliche Körperverletzung gibt der Angeklagte zu. Allerdings nicht die Beleidigung. Ganz im Gegenteil. Er behauptet, das Opfer hätte ihn zuerst beleidigt. „Es ist das erste Mal, daß ich mich geprügelt habe. Ich dachte, ich sei im Recht. Er hat mich beschimpft. Warum sollte ich ins Gefängnis? Wegen eines Wortes?“

Knaan Al S. war 15 Jahre alt, als seine Eltern ihn als jüngstes von sechs Kindern wegschickten. Die Familie stammt aus Palästina. Dort waren die Großeltern geboren. Ein Staat Israel existiert für ihn nicht. Wie auch? Auch in seinen Schulbüchern, die er in Syrien bekommen hatte, gibt es auf den Landkarten keinen Staat Israel. „Da steht Palästina drauf“, sagt er vor Gericht aus. Doch Knaans Weg führt ihn nicht nach Palästina, sondern nach Deutschland. Hier soll sich das „Nesthäkchen“, wie ihn einmal der Vorsitzende Richter Günter Räcke bezeichnet, ein neues Leben aufbauen. Doch statt Schule und Ausbildung schwebte ihm wohl eher eine Fußballerkarriere vor, oder eine Karriere bei Netto, nicht Nato, wie die Dolmetscherin erst falsch verstand, an der Kasse.

Dem Vorsitzenden Richter Räcke schwebte ein kurzer Prozeß vor. Er hatte einen Verhandlungstag angesetzt, wollte den Angeklagten und acht Zeugen vernehmen, dann sollten die Plädoyers gehalten und ein Urteil gesprochen werden. Es werden zwei volle Verhandlungstage und dabei nicht einmal alle Zeugen gehört. „Ich kann doch nicht wochenlang hier über Asylprobleme, das Bamf und den Nahost-Konflikt verhandeln“, sagt Räcke einmal am ersten Verhandlungstag zur Nebenklagevertreterin Ulrike Zecher, die ihm zuvor vorgehalten hatte, nicht allzusehr an den Hintergründen der Tat interessiert zu sein. Und er endet mit dem Satz: „Ich weiß, das Verfahren ist überfrachtet, wobei wir uns mit einem relativ einfachen Sachverhalt beschäftigen.“

Das sieht die Nebenklagevertreterin allerdings anders. Immerhin kursieren Verschwörungstheorien, die ihren Mandanten, also das Opfer, in einem nicht so unschuldigen Licht dastehen lassen. Der junge Mann soll die Tat durch sein Auftreten provoziert haben. Das Opfer Adam A. ist ein zart gebauter, etwas arrogant, aber durchaus elegant wirkender junger Mann. Eloquent, gebildet, aus einem Akademikerhaushalt stammend, der Vater ist Arzt. Adam A. ist vielsprachig, ein arabischer Israeli, zum Christentum konvertiert, der in Deutschland Tiermedizin studiert. Angeblich soll er die jüdische Kopfbedeckung nur als Experiment getragen haben. Er habe ausprobieren wollen, ob es in Deutschland möglich sei, unbeschadet mit der Kippa sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dabei handele es sich um einen Übersetzungsfehler, sagt jetzt vor Gericht das Opfer aus. Er sei entstanden bei einem seiner vielen Interviews, die er nach der Tat diversen Medien gegeben hatte. Er habe, so das Opfer, auf die Frage einer Journalistin, ob es sich um ein Experiment gehandelt habe, mit Ja geantwortet. Allerdings habe er Experience verstanden, also Erfahrung.

„Die Frage ist doch“, sagt Verteidigerin Ria Halbritter am zweiten Verhandlungstag um 16.25 Uhr in ihrem Plädoyer, „wurde er geschlagen, weil er eine Kippa trug, oder trug er eine Kippa, während er geschlagen wurde“. Um 17.53 Uhr beantwortete sie Richter Räcke. Sein Urteil nach Jugendstrafrecht: ein Monat Dauerarrest, der bereits durch die Untersuchungshaft verbüßt ist. Dazu einen Betreuungshelfer und eine Führung durch das Haus  der Wannseekonferenz. Mike Samuel Delberg von der Jüdischen Gemeinde in Berlin ist mit dem Urteil nicht zufrieden. Es sei ein relativ schwaches Zeichen. Der antisemitische Charakter der Tat sei angesprochen, aber nicht ausgesprochen worden.