© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Es kann nur einen geben
Türkei: Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gewinnt die Präsidentschaftswahlen / Opposition gesteht Niederlage ein
Marc Zoellner

Schwer tat sich Muharrem Ince, als er am Montag vor die Vertreter der Presse trat. „Auf die endgültigen Ergebnisse“ habe er noch gewartet, gestand der Präsidentschaftskandidat der oppositionellen Kemalistenpartei CHP seine bis zum Schluß klamme Hoffnung ein. „Es war ja immer noch möglich, daß Erdogans Unterstützung unter fünfzig Prozent fällt“ – und daß der türkische Staatspräsident somit in der gleichzeitig stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahl vom vergangenen Sonntag zumindest zur zweiten Runde einer Stichwahl gezwungen werden könne.

Doch für viele der Anhänger Inces starb eben diese Hoffnung bereits während der Verkündung der ersten Prognosen am Wahlabend: Erneut habe sich Erdogan eine Mehrheit sowohl in der Großen Nationalversammlung, so der Name des türkischen Parlaments, als auch als Staatsoberhaupt der klein-asiatischen Republik sichern können, verkündete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi.

Anhaltende Gerüchte über Wahlmanipulationen

Und das bei einer, trotz aller von den unabhängigen Wahlbeobachtern der OSZE beanstandeten Unregelmäßigkeiten, recht ordnungsgemäßen Auszählung, wie Ince konstatierte. „Es gibt keine große Kluft zwischen den Daten des Hohen Wahlausschusses und jenen, die wir selbst gesammelt hatten“, bestätigte Ince den Journalisten. Zwar gebe es Hinweise auf einzelne manipulierte Urnen. Der Unterschied wäre jedoch nicht groß genug, um am Ergebnis noch etwas zu ändern.

Dabei hatte allein schon die Freiwilligenorganisation „Adil Secim Platformu“ (ASP) – zu deutsch „Plattform für faire Wahlen“ – weit über 600.000 ihrer Unterstützer mobilisiert, um anhaltenden Gerüchten über geplante Wahlmanipulationen auf den Grund zu gehen.

Zu beanstanden hatten die Ehrenamtlichen allerdings nicht viel. Einzig im kurdischen Südosten der Republik häuften sich Meldungen über Drangsalierungen bis hin zur offenen Bedrohung von Wahlbeobachtern. Aus einzelnen Wahllokalen wurden die Mitarbeiter der ASP gar komplett verbannt, mutmaßlich, wie die ASP reklamiert, um eine Stimmauszählung zuungunsten der prokurdischen „Demokratischen Partei der Völker“ zu ermöglichen.

Größeren Schaden erlitt die HDP dadurch allerdings nicht. Im Gegenteil: So konnten sich die Sozialisten im Vergleich zum November 2015 sogar um 0,7 Prozentpunkte auf rund elfeinhalb Prozent verbessern – trotz der anhaltenden Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas, welchem die türkische Staatsanwaltschaft eine Mitgliedschaft in der linksradikalen Terrorgruppe PKK vorwirft. 

Noch vor der nationalistischen MHP als drittstärkste Kraft in das neue, nunmehr auf sechshundert Sitzplätze erweiterte türkische Parlament einzuziehen, bedeutet für die HDP einen ganz besonderen Wahlerfolg. Immerhin verloren sämtliche andere alteingesessene Parteien zum Teil gravierend an Zuspruch innerhalb der Bevölkerung, allen voran die regierende AKP.

Als deren Spitzenkandidat hatte Erdogan zwar die Präsidentschaftswahl mit 52,6 Prozent der Stimmen klar für sich entscheiden können. Mit einem Stimmverlust von über sieben Prozentpunkten büßten die Islamisch-Konservativen ihre absolute Mehrheit im Parlament jedoch ein. Mit ihrem Endergebnis von rund 42,4 Prozent ist die AKP nun definitiv an eine Koalition mit der MHP gebunden, die ebenso um gut 0,7 Prozentpunkte auf elf Prozent absackte.

Für Erdogan trotz alledem ein Grund zu jubeln. „Meine Brüder, die Sieger dieser Wahl sind die Demokratie, der Wille des Volkes und das Volk höchstpersönlich“, begrüßte er vom Balkon  der Parteizentrale aus die Scharen von Anhängern. „Der Sieger dieser Wahl“, ließ Erdogan sich bejubeln, „ist jeder einzelne meiner 81 Millionen Bürger.“ Einen zweiten Sieger ließ Erdogan unerwähnt: Die neu gegründete IYI-Partei. Zwar wurden ihre Erwartungen von einer potentiellen Stichwahl gegen Erdogan im Ringen um die Präsidentschaft (JF 23/2018) von den Wahlberechtigten weitgehend konterkariert – ihre erreichten 7,3 Prozentpunkte ließen Parteivorsitzende Meral Aksener noch hinter Demirtas, der gut ein Prozent mehr errang, als Viertplatzierte zurück.Mit 10,1 Prozent der Stimmen gelang der IYI trotz alledem aus dem Stand heraus der Einzug ins türkische Parlament. 

Speziell die AKP mußte eine merkliche Wählerwanderung hin zur jungen nationalistischen Oppositionsbewegung erdulden. Doch auch die CHP erfuhr aufgrund des guten Abschneidens der IYI-Partei bittere Verluste: Zwar konnte deren Kandidat Muharrem Ince zur Präsidentschaftswahl beinahe 31 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Im Parlament hingegen sackten die Kemalisten um ganze zweieinhalb Prozentpunkte auf nur noch 22,7 Prozent ab. Ihre Hoffnung auf einen politischen Wandel in der Türkei hat sich für die CHP vorerst zerschlagen. „Die CHP hat Fehler begangen“, bestätigte Ince am Montag resigniert. „Aber darüber werde ich vor der Presse ganz sicher nicht sprechen.“

Mit einer Beteiligung von rund 88 Prozent lockten die Wahlen in der Türkei überraschend viele Bürger an die Urnen. Verhaltener fiel indessen das Interesse bei den gut drei Millionen Auslandstürken aus. In Deutschland, wo gut anderthalb Millionen Türken zur Teilnahme berechtigt waren, fand gerade einmal jeder zweite seinen Weg zur Stimmabgabe.

Mit zwei Dritteln der Wählerstimmen konnte Erdogan in der Bundesrepublik jedoch erneut herausragend punkten – ein Trend, der sich bereits in den vergangenen Wahlen und Referenden abzeichnete.