© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Was hinter der „europäischen Lösung“ steckt
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS): Die geplanten Änderungen der Dublin-Regelung könnten fatal sein
Dieter Amann

Während in Deutschland noch immer das zerrüttete Verhältnis zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer (CSU) die medialen Diskussionen bestimmt, droht an ganz anderer Stelle weiteres Ungemach. Wenn sich am 28. und 29. Juni in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU treffen, steht auch das Thema Migration auf der Agenda. Konkret: die Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS). Dessen wichtigste Bestandteile könnten Deutschland noch mehr belasten als zuvor, andere europäische Staaten noch mehr empören, und kein bißchen weniger Sogwirkung für Einwanderer entfalten, ganz im Gegenteil.

Dabei ist das GEAS kein gänzlich neues Vorhaben. Die Ursprünge datieren aus dem Jahr 1992, als der Maastrichter Vertrag die Asyl-und Einwanderungspolitik sowie die Kontrolle der Außengrenzen zu „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“ erklärte. Die Souveränität der Nationalstaaten bezüglich ihrer eigenen Asyl- und Zuwanderungspolitik bekam erste Risse. 

Mit dem Amsterdamer Vertrag 1999 wurden Innen-, Justiz- und Visapolitik sowie das Aufenthalts- und Asylrecht vergemeinschaftet. Ein epochaler Bruch: Von nun an waren diese Politikbereiche der Legitimation durch die nationalen Parlamente weitgehend entzogen.

Dublin-III-Verordnung hielt nicht, was sie versprach 

Noch im selben Jahr erließ der Europäische Rat beim EU-Gipfel im finnischen Tampere wegweisende Richtlinien für den Harmonisierungsprozeß im Migrations- und Flüchtlingsrecht. So wurde erstmals die Notwendigkeit eines GEAS betont. Demnach sollte die Freiheit im EU-Raum nicht Vorrecht von EU-Bürgern sein, sondern vielmehr ins Verhältnis zur „Sogwirkung“ gestellt werden, die sie „auf viele andere Menschen in der Welt“ habe.

Gemäß der Abschlußerklärung stünde es „im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen“. Ansonsten wimmelte die Erklärung nur so von Bekenntnissen zu „menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtungen“ sowie ersten Anzeichen der Selbstaufgabe, wenn etwa das Recht der Völker bestritten wurde, weiterhin zwischen Staatsangehörigen und Ausländern zu unterscheiden.

Dieser Richtlinien-Marathon setzte sich ab der Jahrtausendwende fort: Der europäische Gesetzgeber begann den nationalen Rechtsordnungen seine Vorstellungen vom Umbau der europäischen Gesellschaften überzustülpen. Auf das Haager Programm 2004 („Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht“) folgte das Stockholmer Programm 2009, aus dem die Vision eines „Europa des Asyl“ hervorging.

Diese Vision bedurfte eines Rechtsrahmens, der ab 2003 in Form von zunächst vier Richtlinien und der Dublin-Verordnung allmählich Gestalt annahm. Seitdem lassen sich der Fachliteratur etwa 20 EU-Richtlinien und zwölf EU-Verordnungen entnehmen, von denen die meisten einen größeren Umfang hatten als das komplette deutsche Aufenthaltsgesetz. 

Die wichtigsten Bestandteile des „ursprünglichen“ GEAS waren die Asylverfahrens- und die Anerkennungsrichtlinien, die einschneidende Qualifikationsrichtlinie (welche die Rechtsfiguren der „Flüchtlinge“ und „Subsidiären“ ins deutsche Gesetz hievten), die Daueraufenthalts-, die Familiennachzugs- und die Rückführungsrichtlinie. Den Schlußpunkt bildete die Dublin-Verordnung, derzeit noch in der 3. Version vorliegend.

Nach Beginn der Masseneinwanderung im September 2015 schlug die EU-Kommission eine komplette Erneuerung aller Rechtsakte des GEAS vor – inklusive einer Resettlement-Rahmenverordnung, auch um „legale“ Einreisewege zu schaffen. Vorgeblich sollte damit die Sekundärmigration bekämpft werden. Das Ziel fast jeden Asylbewerbers blieb jedoch größtenteils Deutschland. 

Ende 2016 präsentierte die EU-Kommission sieben Themenschwerpunkte für eine GEAS-Reform, die den nationalen Regierungen zur Beurteilung vorgelegt wurde. Die Folgen dieser Reform wären fatal.

Mit der Hochstufung der meisten bisherigen EU-Richtlinien auf den Verordnungsstatus blieben den Mitgliedsländern künftig – mit wenigen Ausnahmen etwa in der Asylverfahrensverordnung, der zufolge die Mitgliedsstaaten eigene sichere Herkunftsstaaten definieren können – keinerlei Möglichkeiten nationalstaatlicher Abweichungen mehr. Somit wären die Verordnungen in allen Mitgliedsländern geltendes Recht. Mit Ausnahme der Asylverfahrensverordnung und der Dublin-Verordnung wurde bei allen anderen Vorhaben im Europäischen Rat Einigung erzielt.

Diese Rechtsetzungsvorhaben wurden schließlich dem EU-Parlament zur Stellungnahme vorgelegt. Ab hier begann ein ebenso medienwirksames wie schwer verständliches Tauziehen vor allem um die Neufassung der Dublin-Verordnung.

Wir erinnern uns: Die Dublin-III-Verordnung hielt nicht, was sie versprach. Trotz der fast ausnahmslos festgeschriebenen Zuständigkeit der Erstaufnahmestaaten für das gesamte Asylverfahren suchten in den vergangenen Jahren weit über die Hälfte der in Europa Asylbegehrenden ihr Heil allein in Deutschland. Aus diesem Grund sah die Neufassung der Kommission für Krisensituationen einen Verteilmechanismus von den Erstaufnahmestaaten in andere Staaten vor, verbunden mit einer Strafzahlung von 250.000 Euro (!) pro Kopf bei Verweigerung.

Staaten wie Ungarn und Polen liefen dagegen Sturm. Weil der EU-Kommission die Zeit im Nacken sitzt – eine Einigung soll bis Ende Juni 2018 stehen – wurde unter der derzeitigen bulgarischen Ratspräsidentschaft von der Kommission ein noch komplizierterer, noch bürokratischerer „Krisen- und Solidaritätsmechanismus“ ersonnen, der drei Stufen plus zwei Unterstufen vorsieht. Fast ein Drittel der 28 Minister der EU-Staaten lehnte diesen Vorschlag ab.

Auch das EU-Parlament schoß quer: Mit der ebenso unverblümten wie auch zutreffenden Begründung, die Asylbewerber ließen sich ihren Aufenthaltsort von der Bürokratie sowieso nicht vorschreiben, wurde in der Stellungnahme des EU-Parlaments im November 2017 mehrheitlich – auch mit Zustimmung der CSU – das Zuständigkeitskriterium des Ersteinreisestaates durch ein „Ankerpersonenkonzept“ ersetzt, wonach praktisch die bloße Behauptung einer verwandtschaftlichen Beziehung ausreicht, um ein Recht zur Ansiedlung im selben Staat zu erhalten. Der Antrag solle in einem Mitgliedsstaat geprüft werden, zu dem der Antragssteller „nachgewiesene bedeutende Bindungen“ habe, heißt es in dem Papier wortwörtlich.

Die freie Wahl des Aufnahmelandes – eine alte Forderung aller Flüchtlingshilfeorganisationen – rückt damit in greifbare Nähe. Des weiteren dehnte das EU-Parlament den Familienbegriff, der bereits im Kommissionsvorschlag auf Geschwister erweitert wurde, erneut aus und strich alle Sanktionen gegen Personen, die sich Entscheidungen der Behörden verweigern. 

In einem Brief warnten deshalb die Unionspolitiker Stephan Mayer und Stephan Harbarth frühzeitig ihren Parteifreund Manfred Weber (CSU), Fraktionschef der Europäischen Volkspartei,  vor den katastrophalen Folgen: „Die Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem dürfen auf keinen Fall dazu führen, daß die ohnehin schon asymmetrische Lastenverteilung weiter verschärft wird“, schreiben sie.

In diese explosive Gemengelage flog im Juni 2018 noch der Funken des Koalitionsstreits zwischen CDU und CSU. Letzterer sitzt die bayerische Landtagswahl im Oktober dieses Jahres im Nacken, was sie nach Meinung vieler Beobachter veranlaßte, nationalstaatliche Zurückweisungen an der Grenze für bestimmte Asylbewerber zu fordern, verbunden mit einem Ultimatum an die Kanzlerin. Einen Hinweis darauf, daß Kanzlerin Merkel bislang den Versuch unternommen hätte, die Annahme der GEAS-Reform durch den Europäischen Rat zu verhindern, gibt es jedoch nicht. Ist dies also die „europäische Lösung“, von der sie vor zwei Wochen sprach?

Keine Erleichterung von Abschiebungen vorgesehen 

Seehofer jedenfalls lehnt den Vorschlag des Europaparlaments ab. Er passe eigenen Worten zufolge „nicht zu (s)einen Plänen“, weil er nicht nur einen „neuen legalen Migrationsweg“, sondern auch eine „heillose Aufwärtsspirale der Aufnahme“ eröffnen würde. Deshalb hofft der deutsche Bundesinnenminister, daß der Europäische Rat das Vorhaben wieder verwirft.

Welches Konzept sich also durchsetzt, bleibt abzuwarten. Die Einführung des neuen GEAS dürfte für Deutschland so oder so aller Voraussicht nach einen weiteren Einwanderungsschub bringen – auch wenn sich die Maximalforderung des EU-Parlaments zum „Ankerpersonenkonzept“ nicht durchsetzt. Denn zusätzlich wird Deutschland auch die meisten Resettlement-Flüchtlinge aufnehmen müssen. Verbesserungen für Asylsuchende sind im Positionspapier somit häufig zu finden. Eines jedoch sieht das neue GEAS nicht vor: die Erleichterung von Abschiebungen.

EU-Kommission zu den Asylveränderungen:  ec.europa.eu






Elemente des angestrebten Europäischen Asylsystems (GEAS):

• Dublin-IV-Verordnung

(Zuständigkeit, Verteilung, Lastenausgleich, Krisenmechanismus)

• Anerkennungsverordnung

(einheitliche Kriterien für Asylentscheidungen und für Ansprüche auf Daueraufenthalt)

• Verordnung über den Neuansiedlungsrahmen (Resettlement-Programm)

(Vorgaben für Neuansiedlung besonders schutzbedürftiger Drittstaater in den Ländern der EU)

• Eurodac-Verordnung

(Identifizierung, Speicherung und Verarbeitung normaler und biometrischer Daten)

• Asylverfahrensverordnung

(einheitliche Kriterien des Asylverfahrens, zur Zu- und Aberkennung von Asylschutz)

• EU-Asylagentur-Verordnung

(europäische Superbehörde mit vielen asylrechtlichen Kompetenzen)

• Aufnahmerichtlinie

(Integrationsvorgaben, Unterbringung, Alimentierung, Versorgung, Bildung)