© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Kritik der Kritik eines menschenverursachten Klimawandels
Wider die halbe Wahrheit
Konrad Adam

Wer mit der Rhätischen Bahn von Pontresina nach Süden in den Puschlav fährt, kommt kurz vor Erreichen der Paßhöhe an einer kleinen Schweizer Bahnstation mit Namen Morteratsch vorbei. Sie markiert den Punkt, bis zu dem der gleichnamige Gletscher zur Zeit des Streckenbaus, vor gut hundert Jahren also, vorgestoßen war. Inzwischen hat sich die Gletscherzunge weit zurückgezogen, heute muß man etliche Kilometer laufen, um sie zu erreichen. Mannshohe Stelen begleiten den Weg und bezeichnen die Punkte, von denen sich das Eis Jahr für Jahr immer weiter und immer schneller zurückgezogen hat.

Ein Besucher berichtet: „Am vergangenen Samstag war ich wieder einmal in Pontresina und bin den etwa einstündigen Weg zum Gletscher gelaufen. Letztmals war ich 2013 dort; erschreckend, wie der Gletscher in diesen vier Jahren zurückgegangen ist, zu schweigen von den letzten Jahrzehnten.“ Um den traurigen Vorgang zu dokumentieren, gibt er seinen Worten einige Vergleichsbilder bei. Da sieht man, was der Fortschritt für das Klima und was das Klima für die Natur bedeutet.

Tatsächlich braucht man keine Wissenschaft, um den euphemistisch so genannten Klimawandel zu erkennen und seine Folgen abzuschätzen. Der Augenschein reicht, mit dem wird jeder zum Experten. Daß sich das Klima immer schon verändert hat, daß sich Warm- und Kaltphasen abwechselten, ist sicher richtig.

Richtig ist aber auch, daß sich dieser Wechsel früher in kleinen Schritten vollzog und über lange Zeit erstreckte, während er heute ein Tempo angenommen und Ausmaße erreicht hat, die mehr als nur bedrohlich aussehen.

Der Mechanismus ist bekannt und leicht verständlich: Je wärmer die Meere, desto schneller verdampft das Wasser, sammelt sich in der Atmosphäre und geht dann über Land in wahren Sturzbächen nieder. So wie es dieser Tage in Frankfurt, kurz davor in Wuppertal, neulich in Fischbach oder Goslar, in Bayern, Sachsen oder sonst wo auf der Welt geschehen ist. Mit Folgen, die wir in der Gestalt von überschwemmten Straßen, vollgelaufenen Kellern und unterspülten Verkehrswegen immer handfester zu spüren bekommen.

Alles nicht so schlimm, heißt die Parole einer eisernen Garde von Klima­skeptikern, die uns nun schon seit Jahren einreden wollen, Untätigkeit sei das beste Rezept gegen eine drohende Gefahr. Angesichts der Evidenz von Ereignissen, die jeder von uns beobachten, und von Vorgängen, die jeder von uns überprüfen kann, tun sie sich mit ihrer Weiter-so-Dogmatik aber immer schwerer. Ihre Stimme wird zwar nicht leiser, doch ihre Glaubwürdigkeit bröckelt, ihr Kredit schmilzt dahin wie das Eis der Gletscher.

Die Erkenntnis, daß es nicht die Substanz, sondern die Dosis ist, die das Gift macht, stammt von Paracelsus. Und die Dosis stimmt schon längst nicht mehr, seitdem Industrie und Verkehr die Luft mit Wirkstoffen belasten, die dort nichts zu suchen haben.

Sie wissen sich aber zu helfen. Man muß nur lange genug suchen, um unter den vielen Meßstationen, die Klima­daten sammeln, diejenige zu entdecken, die liefert, was man will. Für einige Mitarbeiter von EIKE, dem Europäischen Institut für Klima und Umwelt, war das der Hohenpeißenberg in Bayern. Dort haben sie gefunden, was sie brauchten, um ihr Dogma „Alles nur halb so schlimm“ noch einmal zu wiederholen. Wie oft noch und mit welchen Folgen?

Ob das der Bauer, dem die Ernte verhagelt worden ist, der Autofahrer, der von den Fluten mitgerissen wurde, oder die Rückversicherer, die wieder einmal ein Katastrophenjahr vermelden, auch so sehen? Diese härtesten von allen Realisten berichten seit Jahr und Tag von drastisch steigenden Schadenssummen.

Neulich traf es das kleine Dorf Bondo am Ausgang des Bondascatales, nicht allzu weit von Pontresina entfernt. Ein halber Berg, der Cengalo, war zusammengebrochen, hatte das Tal verwüstet und die uralte Siedlung unter einer Lawine aus Fels und Schlamm begraben. Die Natur bedroht ja längst nicht mehr nur solche Plätze, die früher, als die Menschen mit den natürlichen Gegebenheiten noch besser vertraut waren als heutzutage, aus gutem Grund gemieden wurden. Sie reagiert wie ein gereiztes Tier, wild und rücksichtslos.

Sie bedroht die Bannwälder, verschüttet die alten Handelswege, auf denen die Menschen die Alpen durchzogen hatten, und zerstört die Kirchen, in denen die Bauern jahrhundertelang um gutes Wachstum gebetet und für reiche Ernten gedankt hatten. Was bleibt, sind Trümmer, Brocken, Abraumhalden. Sein Enkel, sagt einer der Dorfbewohner von Bondo, werde nichts anderes mehr kennen als diese Schutthügel, verächtlich Kuhfladen genannt. „Aber ich weiß, daß die nicht da waren, wo früher Nußbäume und Obstbäume wuchsen und meine Kühe weideten.“

Die EIKE-Leute läßt so etwas kalt. Leugnen können sie die Gefahren, die der plötzliche Klimawechsel mit sich bringt, kaum noch, dazu sind die vom Deutschen Wetterdient und dem Weltklimarat, dem vielverlästerten IPCC, vorgelegten Daten zu eindeutig. Relativieren, wegsehen und mit den Achseln zucken, das können sie aber ganz gut. Und dafür gibt es ja auch Gründe. Denn zu ihren Paten gehört CFACT, das Committee for a Constructive Tomorrow mit Sitz in Washington, eine Lobbyorganisation mit guten Verbindungen zur Mineralölindustrie. Damit schließt sich der Kreis.

All das wäre nicht der Rede wert, hätte EIKE nicht erkennbaren Einfluß auf die energiepolitischen Aussagen im AfD-Programm genommen. Er zeigt sich dort, wo die Partei verspricht, die Wahrnehmung von Kohlendioxid als Schadstoff zu beenden, ja ins Gegenteil zu verkehren. Kohlendioxid (CO2), so die eigenwillige Behauptung im energiepolitischen Teil des Parteiprogramms, sei ein Bestandteil des Lebens, also nicht bloß unschädlich, sondern geradezu lebensdienlich.

Früher war man da klüger. Die Erinnerung an Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, hätte genügt, um die These von der wohltätigen Wirkung des Kohlendioxids als halbe Wahrheit, und das heißt eben auch: als ganze Lüge zu durchschauen. Denn die Erkenntnis, daß es nicht die Substanz, sondern die Dosis ist, die das Gift macht, stammt von ihm. Und die Dosis stimmt schon längst nicht mehr, seitdem Industrie, Haushalte und Verkehr Jahr für Jahr die Luft mit Wirkstoffen belasten, die dort natürlicherweise nichts zu suchen haben.

Die Leichtfertigkeit, mit der sich die AfD die Antwort auf eine der großen Lebensfragen von einer Lobby diktieren ließ, ist deshalb so beunruhigend, weil schon der Verdacht auf Abhängigkeit der Partei schaden muß. Er macht sie angreifbar, bringt ihren Widerspruch gegen das EEG, das gründlich mißratene Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien, um seine Wirkung. Die Rückversicherer, die unumwunden von einem Katastrophenjahr sprechen, wären die besseren Garanten für Sachlichkeit gewesen.

Der Verweis auf die Wissenschaft sticht schon deshalb nicht, weil sie anderen Gesetzen unterliegt als die Politik. Entscheidungen im Zustand der Unsicherheit zu treffen ist für den Politiker, anders als für den Wissenschaftler, nicht Ausnahme, sondern Regel.

„Da können wir nichts machen“ ist eine Ausrede, die angesichts der massiven Einwirkungen, die der moderne Lebensstil mit seinem maßlosen Energieverbrauch tagtäglich auf die Umwelt nimmt, unglaubwürdig klingt. Genauso unglaubwürdig und abgedroschen wie die Formel, man müsse mit einer Antwort auf die Gefahr so lange warten, bis sich die Wissenschaftler einig seien. Wann und in welcher Sache wären sie das denn je gewesen?

Der Verweis auf die Wissenschaft sticht schon deshalb nicht, weil sie anderen Gesetzen unterliegt als die Politik. Entscheidungen im Zustand der Unsicherheit zu treffen ist für den Politiker, anders als für den Wissenschaftler, nicht Ausnahme, sondern Regel. Er würde sich selbst zur Tatenlosigkeit verurteilen, wollte er in jedem Einzelfall auf Gewißheit warten. Für ihn reicht die Notwendigkeit, zu entscheiden, immer weiter als die Möglichkeit, zu wissen; weswegen sich seine Stärke eben nicht im Abwarten und Aussitzen, den vielzitierten Tugenden der Angela Merkel, sondern im Handeln erweist.

In der berühmten Rede, in der er Ströme von Blut für den Fall voraussagte, daß England die Masseneinwanderung unkontrolliert weiterlaufen ließe, hatte Enoch Powell, der große englische Konservative, die zeitige Warnung als die erste Aufgabe des verantwortlichen Politikers bezeichnet. Ihr stehe allerdings ein Hindernis entgegen, das tief in der menschlichen Natur verwurzelt sei: die fatale Neigung, eine Gefahr erst dann ernst zu nehmen, wenn sie schon eingetreten sei. Zu spät also. Jedes gegenwärtige Übel, und sei es auch noch so ephemer, löse stärkere Besorgnis aus als eine  große, aber erst drohende Gefahr, sagte Powell.

Was wäre geschehen, wenn die Engländer auf ihn gehört hätten? Hätten sie dann weniger Angst haben müssen, die Kontrolle über die Landesgrenzen zu verlieren? Wäre es dann zu den beschämenden Auswüchsen der Flüchtlingsindustrie in den Midlands gar nicht erst gekommen? Hätte das Desaster der deutschen Öffnungspolitik dann weniger abschreckend auf sie gewirkt? Wären sie dann Europa treu geblieben, hätten auf den Brexit verzichtet und der Gemeinschaft die Zerreißprobe erspart? Und stünden England, Deutschland und ganz Eu-ropa dann nicht besser da als heute?

Wer in Schicksalsfragen auf Zeit spielt, benimmt sich wie ein ärztliches Konsilium, das sich am Bett eines Schwerkranken versammelt, aber nicht einig werden kann. Der Internist setzt auf Medikamente, der Chirurg will operieren, der Therapeut empfiehlt Bewegung und frische Luft. Da sie sich nicht einigen können, vertagen sie sich auf den nächsten Morgen. Da treffen sie sich wieder, doch zu beraten gibt es nicht mehr viel, denn der Patient ist tot. Er kommt in die Pathologie, die den Leichnam seziert und die Todesursache klärt. Jetzt weiß die Wissenschaft Bescheid, aber der Patient hat nichts mehr davon, für ihn kommt die Erkenntnis zu spät.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Parteien, ihre Privilegien und die AfD („Das wichtigste Kapital“, JF 23/18).

Foto: Gletscher auf dem Rückzug wegen der Klimaerwärmung: Am Wanderweg zum Morteratschgletscher in Graubünden (Schweiz) informieren Tafeln über den Gletscherschwund der vergangenen hundert Jahre