© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/18 / 29. Juni 2018

Alternative für Deutschlands Sozialismus
Rudolf Bahro wurde 1978 wegen seiner Kritik an der real existierenden SED-Politik zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt
Jörg Bernhard Bilke

Der 1989/90 untergegangene SED-Staat hatte merkwürdige Gesetze: Wurden politische Straftaten von 1949 bis 1958 nach Artikel 6 der DDR-Verfassung verfolgt, so wurde bei Rudolf Bahro das Strafrechtsergänzungsgesetz vom 1. Februar 1958 angewandt. Dieses Gesetz war erarbeitet worden, um jegliche Opposition gegen die Diktatur zu kriminalisieren. Der Paragraph 15, „Sammlung von Nachrichten“, der in dem Verfahren gegen den SED-Wirtschaftsfunktionär herangezogen wurde, sah eine Höchststrafe von zehn Jahren vor.

Angeklagt war vor dem Ost-Berliner Stadtgericht am 27. Juni 1978 die Veröffentlichung eines umfangreichen Buches (542 Seiten) mit dem anrüchigen Titel „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“, erschienen 1977 in Westdeutschland. Anrüchig war der Titel deshalb, weil er nach Revisionismus roch, nach einem „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, wie ihn die staatskritischen Intellektuellen um Wolfgang Harich (1923–1995) im Sommer 1956 vertreten hatten, bevor sie zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.

Seit den fünfziger Jahren im Visier der Staatssicherheit

Rudolf Bahro wurde am 18. November 1935 in Bad Flinsberg/Schlesien geboren, ging 1945 mit Mutter und zwei jüngeren Geschwistern auf die Flucht und legte 1954 in Fürstenberg/Oder „mit Auszeichnung“ das Abitur ab. Danach studierte er ab 1954 Philosophie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Seine Diplomarbeit trug den umständlichen Titel „Johannes. R. Becher und das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei zur nationalen Frage unseres Volkes“. Der einst expressionistische Dichter Johannes Robert Becher schrieb 1949 den Text der DDR-Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“ und war von 1954 bis 1958 erster DDR-Kulturminister.

Die Kritik am „realen Sozialismus“, die sich schließlich zur Dissidenz auswuchs, entzündete sich, wie immer in solchen Fällen, an einzelnen Mißständen. Durch die Moskauer Enthüllungen im Februar 1956 über die Verbrechen Stalins wurde Bahros bisher festgefügtes Weltbild stark erschüttert. Er beobachtete die Aufstände 1956 in Polen und Ungarn mit wachsender Sympathie und erklärte öffentlich seine Solidarität mit den Aufständischen. Was ihm dabei besonders auffiel, war die dürftige Informationspolitik der DDR-Führung. Um ein vollständiges Bild über diese Vorgänge zu gewinnen, mußte man Westsender wie den Rias hören. Von da an wurde er durch die DDR-Staatssicherheit beobachtet und überwacht.

Nach dem Studium ging Rudolf Bahro 1959, immer noch halbwegs überzeugt, als Parteiarbeiter ins Oderbruch, um die Einzelbauern zum Eintritt in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) zu bewegen. 1960 wurde er in die Universitätsparteileitung nach Greifswald in Vorpommern berufen, 1962 arbeitete er als Referent für den Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft in Ost-Berlin, 1965 wurde er stellvertretender Chefredakteur der Ostberliner Studentenzeitschrift Forum. Wegen des nichtgenehmigten Abdrucks von Volker Brauns verbotenem Theaterstück „Kipper Paul Bauch“ (1965) wurde er 1967 entlassen und „zur Bewährung“ in die Produktion geschickt. 

Zehn Jahre lang, von 1967 bis 1977, sammelte Rudolf Bahro zurückgezogen, aller Illusionen bar, Material für sein Buch. Tagsüber war er Arbeitsorganisator in mehreren Fabriken, nachts und an den Wochenenden schrieb er. An der „ökonomischen Basis“ erfuhr er auch, daß die Arbeiter, obwohl sie im „Arbeiter- und Bauernstaat“ lebten, keinerlei Rechte hatten. Diese Erkenntnisse teilte er tollkühn im Dezember 1967 brieflich dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht mit, ohne jemals eine Antwort zu erhalten. Im Mai 1968 wurde er von einem Mitarbeiter des SED-Zentralkomitees, des Parteiparlaments also, vorgeladen, der ihm unmißverständlich klarmachte, daß seine öffentlich bekundete Solidarität mit der „Konterrevolution“ in Prag nicht länger geduldet werden könne.

Nebenberuflich begann er jetzt, 1972, auch an seiner Dissertation „Über die Entfaltungsbedingungen der Hoch- und Fachschulkader in volkseigenen Betrieben der DDR“ zu arbeiten. Seine 1975 eingereichte Dissertation wurde zunächst von drei Gutachtern der Technischen Hochschule Merseburg sehr positiv bewertet, dann aber griff die Stasi ein, die im Jahr zuvor Rudolf Bahros Ehefrau Gundula als „inoffizielle Mitarbeiterin“ angeworben hatte, und ließ zwei Gegengutachten erstellen, wodurch die Promotion vereitelt wurde.

Sein Verteidiger war der junge Anwalt Gregor Gysi 

Am 22. August 1977 veröffentlichte das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel einen Buchauszug samt Interview mit dem Verfasser, am Tag darauf wurde er verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert. Das Buch aber wurde zehn Tage später in einer Auflagenhöhe von 80.000 Exemplaren ausgeliefert.

Zum Prozeßbeginn am 27. Juni 1978 wurde Rudolf Bahro in Knebelketten vorgeführt. Vorsitzender Richter war Heinrich Hugot, einst persönlicher Referent der berüchtigten DDR-Justizministerin Hilde Benjamin. Bahros Verteidiger war der aufstrebende Junganwalt Gregor Gysi. Da das Schreiben eines Buches auch im SED-Staat nicht strafbar war, mußten andere Anschuldigungen gefunden werden. Der Staatsanwalt behauptete, ohne es beweisen zu können, der Angeklagte hätte für den westdeutschen Verfassungsschutz Informationen in DDR-Betrieben gesammelt.

Am 30. Juni 1978 wurde Rudolf Bahro, die Öffentlichkeit war ausgeschlossen, zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er 25 Monate absaß. Am 11. Oktober 1979 wurde er, zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung, amnestiert und am 17. Oktober, wie es sein Wunsch gewesen war, mit seiner früheren Ehefrau, den beiden Kindern und der Lebensgefährtin in den freien Teil Deutschlands abgeschoben.