© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

„Verführt zum Gouvernantentum“
Laut einer bekannten Redewendung leben wir im „freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat“. Doch ist das wirklich so? Der Philosoph Alexander Grau diagnostiziert die Herrschaft einer „Hypermoral“, die uns und unser Denken steuert
Moritz Schwarz

Herr Dr. Grau, was bitte ist „Hypermoral“?

Alexander Grau: Hypermoral meint nicht eine sehr strenge Moral, wie man sich das „klassischerweise“ vielleicht vorstellen mag. Moral wird zur Hypermoral, wenn sie zur Leitideologie einer Gesellschaft wird. Die Folge ist, daß fast alle gesellschaftlichen oder politischen Debatten ausschließlich unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert werden.

Also eine Vereinfachung der Realität?

Grau: Genau, mit Hypermoral haben wir zu tun, wenn komplexe Phänomene vereinfacht und unter Ausblendung anderer Aspekte auf moralische Fragen reduziert werden. Ein weiterer Unterschied zwischen traditioneller Moral und Hypermoral ist, daß erstere vor allem den persönlichen Lebenswandel betraf, das was man einmal Anstand und Sitte nannte. Hypermoralische Normen betreffen hingegen ausschließlich gesellschaftspolitische Fragen. Beispiel: Früher empörte man sich über die Kinder, die zu laut im Hof spielen. Heute echauffiert man sich über die, die sich darüber beschweren, daß Kinder zu laut im Hof spielen.

Haben wir es tatsächlich mit einer solch neuen Stufe der Moral zu tun und nicht vielleicht doch mit einer klassischen Form, nur im „modernen“ Gewand? So machte einen früher eine „falsche“ Religionsüberzeugung, wie etwa beim jungen Heinrich Heine, nicht gesellschaftsfähig – heute eine „falsche“ politische Überzeugung. Wo ist der substantielle Unterschied?

Grau: Für den Betroffenen macht das in der Tat keinen praktischen Unterschied. Strukturell aber passiert hier etwas ganz anderes. Heine konnte sich noch auf ein aufgeklärtes Denken berufen, das moralische Pluralität und Freiheit zu garantieren schien. Heutzutage sind es aber die Erben der Aufklärung, die ein Moralmonopol für sich beanspruchen. Zur Zeit Heines wurde Freiheit im Namen eines autoritären Systems kassiert. Heutzutage schränkt man Freiheit im Namen der Freiheit ein. Das ist ungleich gefährlicher.

In Ihrem von den Feuilletons gelobten Essay „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“ kommen Sie gar zu dem Schluß: „Moral ist unsere Religion.“ 

Grau: Zunächst: Moral ist unvermeidbar. Soweit ich weiß, gibt es keine moralfreie menschliche Gemeinschaft. Auch die Mafia hat eine Moral. Allerdings werden moralische Vorschriften fast immer aus einem übergeordneten Legitimationssystem abgeleitet. Etwa der Religion oder der Tradition. Etwas ist gut, weil Gott es so befohlen hat oder weil die Ahnen es schon so gehalten haben. In postmodernen Gesellschaften gibt es diese Legitimationen moralischer Regeln nicht mehr – Moral beginnt sich selbst zu legitimieren. Moral wird also selbst zu Religion beziehungsweise zum Religions-Derivat.

Aber wenn die Moral nicht mehr „Magd“ ist, nicht mehr etwa Kirche oder traditionellen Eliten dient, sondern selbst die „Religion“ ist, also das höchste Gut, müßte das doch endlich zur historisch ersehnten bestmöglichen Gesellschaft führen.

Grau: Vielleicht ist unsere Gesellschaft ja sogar die bestmögliche, wer weiß. Und natürlich ist es so, daß eine reflektierte Moral zunächst besser ist als eine unreflektierte. Aber gerade wenn Moral mit dem Anspruch auftritt, rational begründet zu sein, kann sie schnell ins Autoritäre kippen. Moral ist niemals rational. Moralische Haltungen sind letztlich immer Ausdruck persönlicher Einstellungen. Wer moralischen Normen hingegen Objektivität zuweist, diskreditiert alle anderen Haltungen als entweder einfältig, bösartig oder zumindest als gestrig.

Also ist Moral nicht per se veredelnd, sondern vielleicht sogar repressiv? 

Grau: Moral ist immer repressiv. Nennen Sie mir eine Moral, die nicht repressiv ist. Moral veredelt nicht, sondern ist eine Reaktion darauf, daß der Mensch nicht edel ist – Ausnahmen bestätigen die Regel. Moral soll nicht die Menschen verbessern, sondern den menschlichen Mangel organisieren. Sie ist ein Kind unserer Entscheidungsfreiheit. Wären wir ausschließlich von Instinkten gesteuert, bräuchten wir keine Moral.

Haben wir uns also seit der Aufklärung fundamental über die Moral geirrt?

Grau: Wer sind „wir“? Die westlichen Gesellschaften? Nein, die europäische Tradition hat herausragende Theoretiker der Moral hervorgebracht. Denken Sie nur an so unterschiedliche Denker wie Diderot oder Nietzsche. In Deutschland haben sich aber leider sowohl im politisch-gesellschaftlichen Diskurs als auch akademisch Spielarten des Kantianismus durchgesetzt. Denken Sie nur an Habermas. Und dieser Denkstil verführt natürlich zu einem sehr gouvernantenhaften und neopuritanischen Habitus.

Wie funktioniert das, daß ein Mensch – unterstellen wir mal, er meint es eigentlich gut – moralisch sein möchte, sich dazu vielleicht eben an Habermas orientiert, und dann zum Blockwart wird?

Grau: „Blockwart“ ist das falsche Wort. Ich halte es für eine Unsitte, aus polemischen Gründen mit NS-Vokabular zu hantieren. Doch zur Frage: Moralen wollen absolut sein. Moralen sind ihrem Wesen nach intolerant. Es widerspricht ihrer inneren Logik, eine andere Moral neben sich zu dulden. Eine Moral kann nur funktionieren, wenn sie innerhalb der Sippe, in der sie gilt, auch mit sozialen Sanktionen durchgesetzt wird. Also wird auf ihre Einhaltung geachtet.

Und wie funktioniert die „Religion“ der Moral in unserer Gesellschaft praktisch?

Grau: Da können wir an die letzte Frage anknüpfen: Traditionelle Moralen sollten das soziale Zusammenleben regeln, indem sie die Triebe des Menschen kanalisieren. Deshalb laufen traditionelle Moralen zumeist darauf hinaus, den einzelnen zu einem enthaltsamen Leben aufzufordern. Denken Sie an das „Begehre nicht …“ im Alten Testament. Moderne Selbstverwirklichungsgesellschaften können mit diesem Ethos wenig anfangen. Also entsorgen sie die Moral ins allgemein Humane. Moral wird in den Himmel gehoben. Man ist für Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Das gibt transzendenten Halt, und im Alltag kann man sich uneingeschränkt ausleben.

Ausleben statt sich zu enthalten wäre ja dann die Umkehrung von Religion. Verwenden Sie den Begriff also nur, um etwas zu verdeutlichen? Sie meinen damit also nicht, daß es in unserer Gesellschaft tatsächlich so „religiös“ zugeht wie etwa im Mittelalter, nur eben mit der Moral als Religion? 

Grau: Menschen sind immer religiös. Das gehört zur anthropologischen Grundausstattung. Die Frage ist nur, wie sich Religiosität äußerst. Traditionelle Religionen sind da nur eine Möglichkeit. Und heute ist es tatsächlich so, daß Moral für viele eine Religion ist, ein Glaube an ein transzendentes Absolutes, um das sich eine Gemeinde schart, eine Kirche mit Kirchenführern und Priestern, mit Heiligen, Gläubigen und Ritualen und einem spezifisch klerikalen Jargon. 

Aber vor fünfzig Jahren sind doch die Achtundsechziger – und später die Grünen – angetreten, uns vom Diktat der Moral zu befreien. Und nun leben wir nicht in einer freieren Welt, sondern in einer noch totaleren Moral?

Grau: Natürlich leben wir in einer freieren Welt. Und das ist ja auch erst einmal großartig. In die von sozialen Zwängen bestimmten Gesellschaften früherer Zeiten will wahrscheinlich kaum jemand ernsthaft zurück. Nun ist aber etwas Seltsames passiert. Es hat sich gezeigt, daß die Erben von Achtundsechzig die ursprünglich befreienden Botschaften in Anliegen umgemünzt haben, die deutlich repressive und puritanische Züge tragen. Ein schönes Beispiel ist die Entwicklung des Feminismus. Viele Widersprüche des zeitgenössischen Feminismus, etwa die Verteidigung des muslimischen Patriarchats, ergeben sich daraus, daß man das ursprünglich freiheitliche Anliegen vergessen hat. 

Was also tun angesichts der Hypermoral? Widerstand leisten? Innere Emigration? Oder fleißig mitmachen?

Grau: Jeder nach seiner Façon. Ich werde mich hüten, Vorschläge zu machen. Wichtig scheint mir nur eins, und dazu sollte mein Büchlein ein Beitrag sein: Man muß sich klarmachen, wie die Denkschablonen funktionieren, in denen wir denken, wie sie entstehen, welche Entwicklungen dafür verantwortlich sind und daß es eben Denkschablonen sind. Das Erschütternde ist doch, daß häufig gerade jene, die so stolz auf ihr kritisches Denken sind, nur das sagen, was alle sagen. Wir müssen wieder lernen, drei Schritte zurückzutreten und unsere eigenen Denkmuster zu hinterfragen.

Warum geschieht das nicht? Intellektuelle haben doch angeblich die Aufgabe, die Gesellschaft zu hinterfragen. Wo bleibt ihr Aufbegehren gegen die Hypermoral? 

Grau: Mit wenigen Ausnahmen – etwa Peter Sloterdijk, Norbert Bolz oder Rüdiger Safranski – haben wir hier erhebliche Defizite, keine Frage. Und das ist ein Drama für eine Gesellschaft, die sich pluralistisch nennt. Egal in welches Stadttheater man geht, welchen Film man schaut, welches Buch man liest, welche Galerie man besucht – immer wird man im Kern mit den gleichen gesellschaftspolitischen und ideologischen Botschaften konfrontiert. Das ist peinlich und öde. Wo sind die liberalen oder konservativen Künstler, Literaten oder Regisseure?

Oder täuschen wir uns über die Rolle der Intellektuellen? Sind es vielleicht gerade sie, die sich Hypermoral ausdenken und erzeugen und in die Gesellschaft einspeisen?

Grau: Ja, so wird das häufig gesehen. Das ist der Gramsci-Mythos von der Erringung der kulturellen Hegemonie. Nach dem Motto: Erst denkt der Intellektuelle etwas vor und dann folgt ihm die Masse. Aber das ist Unsinn. Nur Intellektuelle können auf die Idee kommen, daß Intellektuelle in dieser Welt etwas bewirken. Das sind kindische Allmachtsphantasien. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre war doch nicht wegen der Achtundsechziger erfolgreich, sondern weil seit den frühen fünfziger Jahren – im Grunde schon seit den zwanziger Jahren – in Europa erheblich sozioökonomische Umformungsprozesse abliefen. Das Rollenbild der Frau etwa hat sich schon nach dem Ersten Weltkrieg, besonders aber nach dem Zweiten massiv verändert. Das sieht man sehr schön an der Entwicklung der Frauenmode. Oder nehmen sie die sogenannten „Halbstarken“ der fünfziger Jahre, überwiegend junge Männer aus der Arbeiterschicht. Die haben Achtundsechzig erst möglich gemacht.

Was ist mit den Kirchen? Die christliche Lehre ist ein einziger Aufruf zur Überwindung der gesellschaftlichen Moral. Jesus forderte, nicht den Splitter beim anderen, sondern den Balken bei sich selbst zu sehen. Er verlangte Nachsicht und Liebe für Sünder und Moralverletzer und bezichtigte die Inhaber der Moral der Heuchelei. Warum sind die Kirchen dann heute an der Spitze der Hypermoral zu finden und nicht im Widerstand gegen sie? 

Grau: Ein wichtiger Hinweis. Jesus von Nazareth war nicht für einen Mindestlohn oder gegen Atomkraft. Sehr wohl aber wandte sich Jesus gegen Selbstgerechtigkeit und moralische Überlegenheitsgefühle. Die Kirchen beider Konfessionen gefallen sich zur Zeit aber darin, Menschen auszugrenzen und herabzuwürdigen, wenn sie nicht die richtige politische Einstellung haben. Der Grund dafür ist relativ einfach: Die metaphysischen Kernaussagen des Christentums sind im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts unglaubwürdig geworden. Selbst symbolische Interpretationen erreichen die Menschen kaum noch. Die Kirchen wurden sprachlos. Also übertünchte man die eigene theologische Einfallslosigkeit durch politisches Engagement und Moralisierung des öffentlichen Diskurses.

Warum ist ausgerechnet der Konservative – eigentlich doch Inbegriff des Verfechters der Moral – heute der Widerständige gegen moralische Normen? Ist das nicht absurd?

Grau: Das überrascht auf den ersten Blick, in der Tat. Und ist eine große Chance für den Konservativismus, das anarchistische Potential, das immer schon in ihm steckte, auch zu aktivieren. Faktisch ist diese neue Konstellation natürlich Ausdruck der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Erstmals in der Geschichte der Moderne ist der Konservativismus nicht die Ideologie der Mächtigen, sondern der Opposition.

Sie sagen, wir brauchen den „Sünder“, warum?

Grau: Sünder sind moralische Nonkonformisten. Sie sorgen dafür, daß moralische Normen regelmäßig in Frage gestellt und neu verhandelt werden. So bleiben menschliche Gemeinschaften normativ flexibel. Und das ist wichtig. 

Also ist der Konservative heute der Sünder?

Grau: Schöne Frage! Ja, vielleicht ist das so. Zumindest ist er der Non-Konformist, der dafür sorgt, daß diese Gesellschaft nicht an ihren eigenen moralischen Gewißheiten erstickt. Und das ist ja auch schon mal was. 






Dr. Alexander Grau, der Philosoph, Kultur- und Wissenschaftsjournalist publiziert vor allem zu Themen der Ideen- und Kulturgeschichte, unter anderem in FAZ und Süddeutscher Zeitung. Außerdem veröffentlicht er wöchentlich seine Kolumne „Grauzone“ auf Cicero Online zum Zeitgeist in Politik und Gesellschaft sowie die Kolumne „Lesezeichen“ in der Zeitschrift Tweed über Bücher, „die der Gentleman gelesen haben muß“ (Grau). Ende 2017 erschien sein ebenso „überzeugender (wie) verstörender“ (DLF) Essay „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Geboren wurde er 1968 in Bonn.

Foto: Allmacht einer politisch korrekten Übermoral: „Egal in welches Stadttheater man geht, welchen Film man schaut, welches Buch man liest oder welche Galerie man besucht – immer wird man im Kern mit den gleichen gesellschaftspolitischen und ideologischen Botschaften konfrontiert“ 

 

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