© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Von wegen „wirkungsgleich“ ...
Streit in der Union II: Angela Merkels Brüsseler Einigung hält nicht, was die Kanzlerin versprochen hat / Mehrheit für Zurückweisungen
Jörg Kürschner

Am vergangenen Freitag schien Bundeskanzlerin Angela Merkel in Brüssel ein politischer Coup gelungen zu sein. Getrieben von der „Schwesterpartei“ CSU habe sie auf dem EU-Gipfel eine Verschärfung des europäischen Asylrechts durchgesetzt, hieß es in den Nachrichtenagenturen. Danach soll es geschlossene Aufnahmelager für Bootsflüchtlinge in Europa und nach Möglichkeit auch in Nordafrika geben. Außerdem ist eine stärkere Abriegelung der EU-Außengrenzen und bis 2020 eine Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex geplant. Freundliche Fernsehbilder der 28 EU-Partner verstärkten den Eindruck, Merkel habe einen kaum für möglich gehaltenen Erfolg errungen. Wenn man die Beschlüsse und die mit einzelnen EU-Staaten ins Auge gefaßten  Vereinbarungen zusammennehme, „dann ist das mehr als wirkungsgleich“, gab sich die Regierungschefin selbstsicher.

„Wirkungsgleich“, das Schlüsselwort im Streit zwischen Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer. Der CSU-Chef hatte klargestellt, er werde von seiner Absicht, in anderen EU-Ländern bereits registrierte Asylanten durch nationale Maßnahmen an der österreichisch-deutschen Grenze direkt zurückzuweisen, nur Abstand nehmen, wenn die Kanzlerin etwas „Wirkungsgleiches“ erreiche. Die CSU reagierte auf die Nachrichten aus Brüssel zunächst nicht ablehnend. „Jetzt gehe es darum, daß diese Punkte auch konkret umgesetzt werden“, kommentierte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Gipfelbeschlüsse. Seehofer allerdings schwieg eisern. 

Nur eine unverbindliche Absichtserklärung

Nach ihrer Rückkehr nach Berlin faßte Merkel die Ergebnisse von Brüssel in einem Schreiben an die Partei- und Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD zusammen. Darin hob sie insbesondere die Bereitschaft Griechenlands und Spaniens hervor, „Asylsuchende wiederaufzunehmen, die künftig von deutschen Behörden an der deutsch-österreichischen Grenze festgestellt werden und einen Eurodac-Eintrag der genannten Staaten haben“. Und weitere 14 Staaten hätten sich damit einverstanden erklärt, Flüchtlinge im beschleunigten Verfahren zurückzunehmen, die in diesen Staaten bereits registriert worden seien, aber nach Deutschland weitergereist seien. Eine Luftnummer, wie sich rasch herausstellte. Mit drastischen Worten wie „Fake News“ oder „Bluff“ widersprachen die Regierungen von Polen, Ungarn und Tschechien dieser Darstellung. Peinlich für Merkel, die anschließend von „Mißverständnissen“ sprach.

Nun wendete sich das Blatt zuungunsten der Kanzlerin. „Angesichts der divergierenden Wortmeldungen aus einigen EU-Mitgliedsstaaten kann man Zweifel haben, ob die Ratsbeschlüsse alle Realität werden“, merkte Dobrindt an. Und Seehofers Beamte entdeckten bei einer genaueren Analyse des EU-Abschlußpapiers und Merkels Schreiben weitere Schwächen. Schutzberechtigte sollen in den geplanten Auffangzentren auf freiwilliger Basis verteilt werden, heißt es dort. Es handelt sich also nur um eine unverbindliche Absichtserklärung. Und noch ein Schönheitsfehler fand sich in den Dokumenten. Die nordafrikanischen Staaten lehnen die Einrichtung von Auffangzentren geschlossen ab, haben dies immer wieder bekräftigt. Auf Länder wie Tunesien und Marokko hatte die EU große Hoffnungen gesetzt. „Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen ... die Qualität der Zusammenarbeit mit Afrika auf eine neue Ebene bringen“, heißt es in dem Merkel-Schreiben ohne Bezug zur Realität. 

Nicht viel anders sieht es in den Nicht-EU-Staaten Europas aus. Der albanische Regierungschef Edi Rama stellte klar: „Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren. Albanien wolle solche Lager nicht haben, wenn es bedeute, verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den niemand will.“ Ähnlich äußerten sich Montenegro, Bosnien und Mazedonien. 

Die zahlreichen unverbindlichen Absichtserklärungen kontrastierten mit Seehofers viel zitiertem Masterplan, dessen 63 Punkte am vergangenen Montag erstmals veröffentlicht worden waren. Darin ist unter Punkt 27 die Meßlatte formuliert. „Künftig ist auch die Zurückweisung von Schutzsuchenden beabsichtigt, wenn diese in einem anderen EU-Mitgliedsstaat bereits einen Asylantrag gestellt haben oder dort als Asylsuchende registriert sind.“ Sie stimme mit 62,5 der 63 Punkte überein, hatte Merkel immer betont. Dieser Dissens blieb nach dem EU-Gipfel bestehen. 

Laut einer aktuellen Umfrage von Insa sehen 55 Prozent der Deutschen die Beschlüsse des Brüsseler Gipfels positiv. Insgesamt 43 Prozent wünschen, daß bereits in anderen EU-Ländern registrierte Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden. 15 Prozent sind gegen die Beschlüsse des EU-Gipfels, aber für die Umsetzung der Forderung von Horst Seehofer, teilten die Meinungsforscher mit. Weitere 28 Prozent sind ebenfalls für die Forderung von Horst Seehofer, aber nur so lange, bis die Beschlüsse des EU-Gipfels umgesetzt sind. Rund jeder vierte Befragte (27 Prozent) ist gegen die Forderung von  Horst Seehofer, aber für die Beschlüsse des EU-Gipfels. Nur acht Prozent der Befragten sind sowohl gegen die Beschlüsse des EU-Gipfels als auch gegen die Forderung von Seehofer. „Die Mehrheit der Befürworter der Ergebnisse des EU-Gipfels wünscht sich Zurückweisungen an der Grenze, bis die EU-Beschlüsse umgesetzt sind“, faßte Insa-Chef Hermann Binkert die Ergebnisse zusammen.