© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Mittelmeer-Connection
Der Fall „Lifeline“: Ein Flüchtlingsverein sucht mit Unterstützung deutscher Medien und Politiker zwischen Libyen, Malta und Italien die Konfrontation mit einwanderungskritischen Regierungen
Lukas Steinwandter

Der Mann mit den kurzen, graumelierten Haaren steht eng umringt von einer Traube Journalisten am Hafen von Valletta. Mit ernster Miene spricht Axel Steier am vergangenen Mittwoch in die Kameras und Mikrophone: „Viele der geretteten Migranten entkamen der Folter in libyschen Gefängnissen. Wir konnten sie nicht dorthin bringen.“ Steier ist Pressesprecher und Mitgründer der Mission Lifeline, einem Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Seenot geratene Menschen zu retten. Kurz zuvor war das Rettungsschiff „Lifeline“ mit 234 mehrheitlich schwarzafrikanischen Passagieren an Bord in der maltesischen Hauptstadt angekommen. 

Sechs Tage lang mußten sie auf dem  Schiff ausharren, weil die italienische und zunächst auch die maltesische Regierung der Crew verboten hatten, ihre Häfen anzusteuern. Schließlich verknüpfte Maltas Ministerpräsident Jo-

seph Muscat die Anlegeerlaubnis mit einer Bedingung: Andere EU-Staaten müßten sich an der Aufnahme der Asylsuchenden beteiligen. Frankreich, Italien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Irland und Luxemburg willigten ein.

Die „Lifeline“ ist nicht das erste Schiff einer Nichtregierungsorganisation, das zu diplomatischen Spannungen führte. Wenige Tage zuvor hatte die mit über 600 Afrikanern beladene „Aquarius“ (JF 26/18) vergeblich versucht, einen Hafen in Italien oder Malta anzusteuern und fuhr schließlich nach Valencia, wo 2.300 Helfer warteten, um sich um die Neuankömmlinge zu kümmern. Die „Lifeline“ ist aber das bislang anschaulichste Beispiel, wie Flüchtlingshelfer im Mittelmeer flankiert von Medien und linken Politikern Druck auf Anrainerstaaten und Regierungen im eigenen Land aufbauen – und letztlich erfolgreich sind. 

Am 20. Juni um 23.53 Uhr teilt die Crew in ihrem digitalen „Logbuch“ auf Twitter die Position ihres Schiffes mit: 32° 57,5 N / 014° 22,7 E. Die „Lifeline“ befindet sich knapp außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone, also vor dem Staatsgebiet Libyens auf Höhe der Stadt al-Chums. Wenige Stunden später, am Donnerstag morgen, folgt der nächste Eintrag: „Die Lifeline ist an einer Rettungsaktion beteiligt. Weitere Informationen folgen.“ Es handelt sich um jene 234 Migranten, über deren Zukunft sich in den folgenden sechs Tagen Regierungen streiten und Hunderte Medien weltweit unzählige Artikel und Berichte veröffentlichen werden. Fortan vergeht kein Tag, ohne daß italienische Zeitungen Eilmeldungen veröffentlichen. Die Ereignisse überschlagen sich:

21. Juni: Die „Lifeline“ fordert Verstärkung der italienischen Küstenwache an. Italiens Innenminister Matteo Salvini (Lega) bekräftigt in einer Videobotschaft: „Italien sagt stopp zu Schleppern und ihren Komplizen“, die „Lifeline“ dürfe keinen italienischen Hafen anlaufen.

22. Juni: Die Flüchtlingshelfer veröffentlichen das sogenannte Ausflaggungsdokument. Laut der Internationalen Seeschiffahrts-Organisation fährt die „Lifeline“ unter niederländischer Flagge.

23. Juni: Malta weist die Forderung aus Rom zurück, der Inselstaat sei für die Bordinsassen verantwortlich und müsse das Schiff in seine Häfen einlaufen lassen.

24. Juni: Drei Bundestagsabgeordnete von der Linkspartei und den Grünen besuchen die „Lifeline“. Die Crew lädt auch Salvini auf das Schiff ein, weil er die Migranten als „Menschenfleisch“ bezeichnet hatte.

25. Juni: Salvini fordert Frankreich auf, die Einwanderer aufzunehmen. Die italienische Küstenwache brauche nicht mehr auf SOS-Signale von NGOs reagieren. Die „Lifeline“-Besatzung bittet, nach Malta fahren zu dürfen, da Wind und Wellen immer stärker würden.

26. Juni: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kritisiert die Crew: „Die Lifeline hat wider alle Regeln gehandelt.“ Frankreich jedoch will einen Teil der Asylsuchenden aufnehmen. Italiens Küstenwache widerspricht Salvini. Sie werde auf Hilferufe antworten, aber genau auf die Regeln schauen.

27. Juni: Nach Rücksprache mit Rom kündigt Valletta an, die „Lifeline“ einlaufen zu lassen. Das Schiff trifft am späten Nachmittag in der maltesischen Hauptstadt ein. Das Ziel Europa ist erreicht.

Der Konflikt zwischen der „Lifeline“ und der neuen italienischen Regierung erfolgte mit Ansage. Italiens Innenminister Salvini echauffierte sich bereits am 16. Juni über die Crew der „Lifeline“ und die eines anderen NGO-Schiffs: „Diese Leute sollten wissen, daß sich Italien nicht mehr am illegalen Einwanderungsgeschäft beteiligt, und deshalb müssen sie andere Häfen suchen.“ In einem knapp 20 Minuten langen Video vom 21. Juni sprach er davon, wie er sich als italienischer Bürger von einer NGO „an der Nase herumgeführt“ fühle und wie sauer er sei.

Davon ließ sich der Dresdner Verein allerdings nicht beirren. Das „Lifeline“-Team suchte die Konfrontation mit Salvini und Italien bewußt. Die italienische Küstenwache hatte die Crew angewiesen, nicht sie, sondern die libysche Küstenwache solle die Afrikaner aufnehmen. Die Deutschen taten es dennoch und baten anschließend, in einen italienischen Hafen einlaufen zu dürfen.

Auf ihrer Webseite teilen die Flüchtlingshelfer unverhohlen mit, sie gingen gezielt nahe der libyschen Küste „auf Suche“ nach Personen in Seenot. Womit sie laut einem Risikobericht der Grenzschutzagentur Frontex die Erfolgs-

chancen von kriminellen Schleppern zumindest unbewußt erhöhen. Doch die zivilen Seenotretter, wie sie sich selbst nennen, können sich der politischen und medialen Unterstützung aus dem Heimatland gewiß sein.

Während ihrer sechstätigen „Irrfahrt“ spannte sich ein vielgliedriges Unterstützernetz „made in Germany“ über die 17köpfige Mannschaft. Die taz widmete dem Fall „Lifeline“ ein Titelthema, von Zeit Online über den WDR bis zur Rheinischen Post wurden Crewmitglieder in Dutzende Redaktionen zum Interview weitergereicht. Die Zeitungskommentare waren übertitelt mit „Europa sollte sich schämen“ (Stern), oder „Menschlichkeit ist kein Gnadenakt“ (taz).

In den Lobeshymnen kam neben Salvini auch ein deutscher Minister schlecht weg: Horst Seehofer. Die Autoren machten den CSU-Politiker mitverantwortlich für die Krise im Mittelmeer. Tatsächlich bilden einige Medien und die „Lifeline“ eine gut funktionierende Symbiose. Nur kurze Zeit nachdem bekanntgeworden war, daß sich der Bundesinnenminister für die Festsetzung des Schiffes im Innenausschuß ausgesprochen haben soll, veröffentlichte die Dresdner NGO einen offenen Brief an ihn, der wiederum von  zahlreichen Journalisten aufgegriffen wurde. 

Auch untereinander hilft man sich. Die Mission Lifeline ist im Vergleich zu anderen Flüchtlingsorganisationen im Mittelmeer ein kleiner Verein – und der Medienandrang ist groß. Auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT antwortet dann auch eine Sprecherin der Berliner Organisation „Sea-Watch“ und verweist auf eine geplante Stellungnahme.

Ein ähnliches Zusammenspiel ist zwischen linken Politikern und der Crew zu beobachten. Am 24. Juni, als sich noch nicht abzeichnete, in welchem Hafen die „Lifeline“ anlegen darf, besuchten drei Bundestagsabgeordnete das Schiff. PR-technisch perfekt inszeniert, durften die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, Luise Amtsberg, und ihr Fraktionskollege Manuel Sarrazin sowie der Linkspartei-Abgeordnete Michel Brandt auf dem Schiff vor den Kameras posieren und gegenüber Nachrichtenagenturen von einer „gefährlichen“ Lage und einer „humanitären Katastrophe“ sprechen.

Kapitän Claus-Peter Reisch steht auf Malta vor Gericht

Auf einer Pressekonferenz wies „Lifeline“-Sprecherin Marie Naaß schließlich alle Anschuldigungen zurück. „Wir werden zu Sündenböcken gemacht für eine gescheiterte Migrationspolitik auf europäischer Ebene.“ Ihr Team habe sich an bestehende Konventionen gehalten, betonte Naaß mehrfach. Eines der wichtigsten Übereinkommen, auf das sich Flüchtlingshelfer im Mittelmeer berufen, ist die 1979 beschlossene International Convention on Maritime Search and Rescue. Das Übereinkommen soll die Rettung in Seenot geratener Personen unabhängig vom Unfallort durch Seenotrettungsorganisationen sicherstellen. Beteiligte Staaten verpflichten sich, Search-and-Rescue-Dienste (SAR) bereitzustellen. 

Zur besseren Koordinierung von Rettungseinsätzen gibt es sogenannte SAR-Zonen. Jeder Staat ist für ein bestimmtes Gebiet verantwortlich. Allerdings, und darauf berufen sich die NGOs, müssen Migranten in einen sicheren Hafen gebracht werden, zu denen die libyschen aus Sicht der Helfer nicht zählen. Warum jedoch keine tunesischen Häfen angesteuert werden, erklären sie nicht.

Bislang wehrt sich Mission Lifeline auch erfolgreich gegen den Vorwurf, ihr Schiff sei staatenlos gefahren. Laut der Crew sei das Schiff im niederländischen Wassersportverband registriert, da der Verein als Non-Profit-Organisation kein gewerbliches Boot anmelden dürfe. Zudem sei das Schiff auch bei der Frequenzzuteilung als Yacht mit Search-and-Rescue-Aufgaben bezeichnet worden. 

Seit Montag steht nun der deutsche „Lifeline“-Kapitän Claus-Peter Reisch in Valletta vor Gericht. Ihm wird vorgeworfen, ein nicht ordnungsmäßig registriertes Schiff gesteuert und unerlaubt in maltesisches Hoheitsgewässer eingefahren zu sein. Das Schiff wird als Tatwerkzeug bezeichnet und darf den Hafen nicht verlassen.

Die Dresdner Flüchtlingshelfer sprechen von haltlosen Anschuldigungen ohne Konsequenzen. Finanziell stehen sie nach der jüngsten Aktion indes solide da. Auf Initiative des ZDF-Satirikers Jan Böhmermann kamen seit dem Wochenende über 125.000 Euro Spendengelder als Rechtskostenhilfe für Mission Lifeline zusammen. Und der Spendentopf für den Start der nächsten „Rettungsmission“ ist bereits zu 90 Prozent gefüllt.





Der Verein

Mission Lifeline ist eine 2016 gegründete Nichtregierungsorganisation (NGO) aus Dresden. Der Verein setzt sich nach eigenen Angaben für die Rettung in Seenot geratener Menschen ein. Hierfür nutzen die Helfer das Rettungsschiff „Lifeline“, das sie der Flüchtlingsorganisation Sea-Watch abkauften. Die dafür nötigen 200.000 Euro sammelte der Verein mit Spenden. Hervorgegangen ist die NGO aus dem „Dresden-Balkan-Konvoi“, der in den ersten Wochen der Asylkrise 2015 Sachspenden mit Kleintransportern ins serbische Preševo und nach Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze brachte. Der erste Einsatz im Mittelmeer begann im September 2017. Bereits im Juni hatte die Dresdner Staatsanwaltschaft wegen des „Verdachts des Einschleusens von Ausländern“ gegen zwei Vereinsmitglieder ermittelt, das Verfahren jedoch kurze Zeit später wieder eingestellt. (ls)