© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

Gegen die Gleichmacherei der Allzuvielen
Das lyrische Werk Stefan Georges: Es bleibt weit mehr als nur die Kleinschreibung
Günter Scholdt

Am 12. Juli 1868 wurde Stefan George in Büdesheim bei Bingen als Sohn eines Gastwirts und Weinhändlers geboren. Nach sporadischen Studien in Paris, Berlin, München und Wien sowie zahlreichen Auslandsreisen, die ihn mit Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Auguste Rodin oder Hugo von Hofmannsthal in Kontakt brachten, wurde er zum Zentrum einer ästhetisch fundierten Gegenkultur. 

Die von ihm gegründeten Blätter für die Kunst (1892 bis 1919) entwickelten ein elitäres Kunstprogramm, das sich nach der Jahrhundertwende philosophisch und reformerisch im Sinne der Jugendbewegung erweiterte. Dazu gehörte eine strenge Lebensführung auf der Grundlage von Männerfreundschaft Gleichgesinnter. Er verschmähte einen festen Wohnsitz und hielt sich meist bei Freunden auf. Er starb am 4. Dezember 1933 in Minusio bei Locarno. 

Jedes Dichterjubiläum fragt implizit nach dem Bleibenden. Frank Schirrmacher antwortete darauf 2007: „Georges Werk ist gegen das Vergessen immunisiert wie vielleicht kein anderes. Das hat zu tun mit jener Frühlingsnacht vor dreiundsechzig Jahren, als nach einem verheerenden Bombenangriff in Wannsee ein Oberstleutnant namens Claus Graf Schenk von Stauffenberg auf den Balkon trat, die Brände betrachtete und Verse aus Stefan Georges Gedicht ‘Der Widerchrist’ zitierte.“

Auf Georges Ethos beruhte gewiß auch mancher politische Entschluß. Doch  befremdet, wie Schirrmacher die Bedeutung dieses großen neuromantischen Poeten zentral vom offenbar allgegenwärtigen Bezugspunkt Drittes Reich herleitet. Denn was bliebe bei dieser Reduktion von Georges Nachruhm, wenn 1943 der noch nicht attentatsbereite Stauffenberg seiner schweren Verwundung erlegen wäre? Oder wenn der Attentäter andere literarische Paten zitiert hätte: zum Beispiel Kleist, Körner oder Schiller? Wie absurd klänge eine Wertung der Art, Schillers Erinnerung sei gesichert durch Stauffenbergs Deklamation von Tells Monolog: „Durch diese hohle Gasse muß er kommen …“

Dichterprophet als Stifter einer Kunstreligion

Man soll Georges Wirkung auf tatbereite Oppositionelle zwar nicht kleinreden. Aber die heute gängige Literaturbetrachtung als Hilfsdisziplin der Volksdidaktik führt in Sackgassen. Es sei denn, Schirrmachers Ansatz wäre gar nicht so abwegig, weil Georges Bedeutung vornehmlich in seiner Wirkungsgeschichte läge: seinem außergewöhnlichen Einfluß auf ihrerseits geschichtsträchtige Zeitgenossen, deren unterschiedliche Entwicklung zu Nationalisten, Republikanern, Zionisten oder Exilanten sie später erbittert über sein geistiges Erbe streiten ließ.  

Oder wurde er zur Person der Zeitgeschichte vor allem als Antipode zur Fortschrittsgesinnung seiner Epoche? Als Vertreter eines auf strikte Gefolgschaft angelegten elitären Freundschaftskults. Als Dichterprophet, der seine Gemeinde auf ein form- und stilgeprägtes Leben verpflichtete. Als Homosexueller gegen die offiziöse wilhelminische Sittsamkeit. Als Dandy und Stifter einer Kunstreligion, die sich gleichermaßen gegen die profane Alltagswelt, die Kommerzkultur der Gründerjahre, das naturalistisch-sozialistische Engagement und die Gleichmacherei der „Allzuvielen“ richtete. 

Er selbst praktizierte den Rückzug aus der Öffentlichkeit und trat nur in Privatzirkeln auf. 1927 lehnte er den Frankfurter Goethepreis zunächst ebenso ab wie 1933 Ehrungen zum 65. Geburtstag oder Goebbels’ Angebot einer Präsidentschaft der erneuerten Preußischen Akademie für Dichtung. In seiner Massenverachtung predigte er seinen Jüngern fast durchweg Distanz zur Politik, die er mit Geschwätz, Liebedienerei oder lärmendem Geschäft verband. Doch gerade solche Haltung machte ihn zum Politikum, zum Antagonisten eines „demokratischen“ Zeitalters. 

Den Kern seines Schaffens bilden ein Dutzend Gedichtbände, angefangen mit „Hymnen“ (1890), „Pilgerfahrten“ (1891), „Algabal“ (1892), und „Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte / Das Buch der Sagen und Sänge / Das Buch der hängenden Gärten“ (1895). Den öffentlichen Durchbruch brachte 1897 „Das Jahr der Seele“, eine symbolisch-idealtypische Überformung traditioneller Naturpoesie. Das Eingangsgedicht errang Klassiker-Status: „Komm in den totgesagten park und schau: / Der schimmer ferner lächelnder gestade. / Der reinen wolken unverhofftes blau / Erhellt die weiher und die bunten pfade.“

Es folgten „Der Teppich des Lebens“ (1900) und „Der siebente Ring“ (1907), der über den Ästhetizismus hinaus einen prophetischen wie lebensreformerischen Auftrag formuliert. Dies verstärkte sich in Georges letzten Gedichtbänden „Der Stern des Bundes“ (1914) und „Das neue Reich“ (1928), die, überzeitlich stilisiert oder chiffriert, teils politisch faßbare Zeitkritik enthalten. Zudem ermöglichte Georges außergewöhnliche Begabung für Fremdsprachen Hunderte bedeutsamer Lyrik-Übertragungen: von Dante Alighieri, Wiliam Shakespeare und Dante Gabriel Rossetti über Verlaine, Mallarmé, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire bis Gabriele D’Annunzio, Waclaw Rolicz-Lieder, Émile Verhaeren oder Jens P. Jacobsen. 

Seine Sprachenkenntnis erschloß ihm fremde Lyriker

Wer Georges Dichtung erstmals testet, braucht gleichermaßen Respekt wie Unvoreingenommenheit. Denn der direkte Zugang ist oft durch aktuelle Moralpostulate verstellt: Wie zulässig sind Aufrufe gegen das morsche Alte in „Auf neue tafeln schreibt der neue stand“? Darf man in „Tage“ den Snobismus preisen, mit dem ein imaginierter Algabal das Blutopfer seines Dieners quittiert? Wie verrucht ist die antidemokratische Geste in „Die tote Stadt“ und ihre unerbittliche Norm, „Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel“? Handelt es sich um unerlaubte antihumanitäre Ideologeme oder veranschaulichte Seelenlandschaften oder Provokationen eines gänzlich ästhetisierten Lebens? 

Wer sich hier nicht verschließt, wird damit nicht schon gleich zum George-Jünger. Manche esoterische Archaisierung, verstiegene Maximin-Vergöttlichung oder (gereimte) Renegaten-Verfluchung reizt eher zum Fremdeln. Dennoch verdient Anerkennung, mit welcher Konsequenz und meist Stilsicherheit sich ein Dichter in den Dienst an der Sprache stellte, sie durch Neuschöpfungen, eigene Orthographie, Interpunktion, Grammatik oder gar Schrifttype experimentell erweiterte – ein völliger Gegenentwurf zum beliebig reproduzierbaren Kunsthandwerk.

Neben den bereits genannten Titeln laden stellvertretend Gedichte wie „Wir werden heute nicht zum garten gehen“ „Der Täter“, „Nietzsche“, „Der Krieg“ „Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg“, „Der Gehenkte“ oder „Das Lied“ zum Mustern ein. Nicht zu vergessen die (glücklich vertonte) „Vogelschau“ in ihrer magischen Eindringlichkeit reiner Poesie: „Weisse schwalben sah ich fliegen. / Schwalben schnee- und silberweiss. / Sah sie sich im winde wiegen. / In dem winde hell und heiss.“

Wird George – abseits von engen Liebhaberzirkeln oder den synthetischen Debatten der Fachgermanistik – noch künftig fesseln? Hoffen wir auf jene kritische Masse von Kennern, die Literatur nicht nur als Fortsetzung der Gegenwartspolitik mit anderen Mitteln betrachten, sondern auch als Ort zur Wiederentdeckung von uns Fremdgewordenem. Oder auf Leser, die wie Oscar Wilde „eine Idee, die nicht gefährlich ist“, für unwert halten, „eine Idee genannt zu werden“. 






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker. Zuletzt publizierte er  „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (Schnellroda 2017).