© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/18 / 06. Juli 2018

„Eine rollende Materialabnutzungsschlacht“
„Unternehmen Zitadelle“: Roman Töppel hat die Schlacht von Kursk 1943 untersucht und ist zu neuen Erkenntnissen gelangt
Jürgen W. Schmidt

Vor 75 Jahren, am 5. Juli 1943, begann das „Unternehmen Zitadelle“, eine der größten Schlachten der Kriegsgeschichte und gleichsam die letzte große Offensive der Wehrmacht an der Ostfront. Das letztliche Scheitern dieser Operation wird auch mit der von den Sowjets direkt zum Angriffstermin einsetzenden Gegenoffensive begründet. Wie jüngste Forschungen des Militärhistorikers Roman Töppel hervorheben, verpufften jedoch ein präventiv unternommener Luftschlag sowjetischer Flieger auf deutsche Flugplätze im Raum Belgorod-Woronesch und die vom Oberbefehlshaber der sowjetischen Zentralfront Konstantin Rokossowki ausgelöste „Artilleriegegenvorbereitung“. Letzterer führte nur dazu, daß Zehntausende Granaten sinnlos ins Leere rauschten. Trotzdem gab man in den Folgejahrzehnten in der Sowjetunion vor, daran zu glauben, beide Aktionen hätten die Wehrmachtverbände unmittelbar vor ihrem Großangriff schwer getroffen und diesen sogar um Stunden verzögert. 

Gewaltige Verluste der Roten Armee

Gleichfalls düster steht es um die Vorinformationen des sowjetischen militärischen Geheimdienstes, von welchem man im Westen besonders in den sechziger und siebziger Jahren befürchtete, er habe seine Informanten direkt im OKW sitzen gehabt. Die sowjetische Generalität wußte zwar von einem bevorstehenden deutschen Angriff, für welchen sich der Kursker Frontvorsprung förmlich anbot. Außerdem hatten die Sowjets Informationen, daß die neuen Panzer „Tiger“ und die neuen deutschen Selbstfahrlaffetten angeblich gleich zu Hunderten am Angriff beteiligt sein würden. 

Deshalb entschloß sich die Führung der Sowjetarmee entgegen den Auffassungen einiger Generäle, den deutschen Angriff lieber in langfristig ausgebauten und verminten Stellungssystemen abzuwarten, statt offensiv vorzugehen. Zugleich stellte Stalins Oberkommando, einmalig in der Kriegsgeschichte, gleich eine ganze Heeresgruppe, die vom späteren Marschall Iwan Konjew befehligte „Steppenfront“ in die Reserve. Diese Reserve war bitter notwendig. Obwohl die angreifende Wehrmacht den sowjetischen Verteidigern personell und quantitativ an Technik weit unterlegen war, nagte diese sich ab dem 5. Juli 1943 immer tiefer an der Nord- und Südflanke des sowjetischen Frontvorsprungs von Kursk durch das Stellungssystem. Führungsmäßig und in der Qualität der Waffen der Roten Armee überlegen, lagen die Verluste der Deutschen dabei weit unter den Ausfällen der Roten Armee. 

Immerhin machten sich die zahlreiche, in die Stellung eingebaute Panzerabwehrartillerie und die vielen Minenfelder, in welche die deutschen Panzer- und mechanisierten Verbände immer wieder gerieten, höchst nachteilig bemerkbar. Als die Wehrmacht die Schlacht nach Verebben des ersten Angriffsschwunges abbrach, waren die Verluste der Roten Armee im Vergleich zu den deutschen Ausfällen wahrhaft ungeheuerlich. Und dies, obwohl nur knapp 40.000 Rotarmisten in Gefangenschaft gerieten und das eigentliche Ziel der Kursker Schlacht nicht erreicht wurde. 

Es hatte in einem doppelseitigen „Abkneifen“ des Frontbogens von Kursk bestanden, was zur Zerschlagung der starken, darin befindlichen sowjetischen Kräfte, und somit zu einer nachhaltigen Schwächung der seit dem Jahre 1941 bereits wieder erstaunlich mobilen Roten Armee führen sollte. Dennoch sind die sowjetischen Verluste bei Kursk „gewaltig“ zu nennen. Der am Kampf von Kursk direkt beteiligte Oberbefehlshaber der 9. Armee, Walter Model, sprach nicht umsonst von einer „rollenden Materialabnutzungsschlacht“. Zwar sind die Verluste schwer zu beziffern, denn offizielle Stellen scheuen in Rußland heute noch die konkreten Zahlen. So schwanken Schätzungen der sowjetischen Gesamtverluste bei Kursk zwischen 1,7 und 2,25 Millionen Mann, zwischen 6.000 und 8.700 Panzerverlusten und zwischen 3.330 und 5.000 verlorenen Flugzeugen. 

Spätere Fehlanalysen von Guderian und Manstein

Die Wehrmacht verlor bedeutend weniger an Technik und Personal. Nur kämpfte die Wehrmacht in einem Mehrfrontenkrieg, und die Verluste an Technik und insbesondere an Personal ließen sich nur begrenzt ersetzen. Bei Kursk verloren die deutschen Truppen im Zeitraum vom 5. bis 23. Juli 1943 gemäß Töppel „nur“ rund 10.000 Mann an Toten, 46.000 Verwundete und etwa 2.000 Vermißte. Statt der sowjetischerseits hinausposaunten 3.100 vernichteten Panzer büßte man nur 350 Panzer und Selbstfahrlafetten und statt der 1.400 angeblich vernichteten deutschen Flugzeuge nur rund 240 ein.   

In fleißigem Aktenstudium, mittels Befragung von Zeitzeugen und durch Lektüre der einschlägigen Literatur hat Töppel sich intensiv mit der Schlacht von Kursk befaßt. Ihm gelingt es folglich in seinem Buch, viele Legenden, Falschinformationen und Forschungslücken zu beseitigen. Einen besonderen Abschnitt widmet er dem Strategen Generaloberst Rudolf Schmidt, dessen 2. Panzerarmee in Kursk eine Schlüsselrolle einnahm,  und der wegen des aufgedeckten Landesverrats seines Bruders Hans-Thilo kurzfristig seinen Posten räumen mußte. 

Generalfeldmarschall Erich von Manstein griff den Gedanken auf, konnte allerdings seine angedachte „Große Lösung“, die Vereinigung beider Angriffskeile tief im sowjetischen Hinterland bei Kastornoje, nicht durchsetzen. Entgegen der Legenden wegen der zeitlichen „Verzögerung“ des Angriffs wäre ein solcher in der „Schlammperiode“ von April bis Anfang Juni wegen des schwierigen Geländes kaum machbar gewesen. Töppel unternimmt nebenbei den gelungenen Versuch einer „Ehrenrettung“ der Selbstfahrlafette „Ferdinand“ (späterer Name „Elefant“), welche wirksamer und bei der Truppe beliebter war, als man bislang annahm. 

Die genauen technischen Analysen der verwendeten sowjetischen und deutschen Kampftechnik machen zudem den technologischen Vorsprung deutlich, über den die Wehrmacht 1943 an der Ostfront immer noch verfügte. Dadurch gelang es den Gegenangriff einer ganzen Gardepanzerarmee bei Prochorowka mit geringen eigenen Verlusten blutig abzuschlagen, als infolge grober Führungsfehler T-34-Panzer die technisch überlegenen deutschen Panzer frontal, statt in der Flanke attackierten. 

Roman Töppel erstaunt mit einem Buch, worin er auf einem anscheinend gut durchforschten Gebiet umwerfende neue Entdeckungen macht. Dazu gehört auch die quellenkritische Erkenntnis des Autors, daß viele deutsche Militärs in ihren Kriegserinnerungen, inklusive Manstein („Verlorene Siege“) und Guderian („Erinnerungen eines Soldaten“), bezüglich Kursk nicht die Wahrheit beziehungsweise nicht die ganze Wahrheit sagten.  

Roman Töppel: Kursk 1943. Die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs, zweite, durchgesehene Auflage. Schöningh Verlag, Paderborn 2017, gebunden, 289 Seiten, Abbildungen 29,90 Euro