© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Jungbrunnen der Literatur
Bekanntestes Werk deutscher Dichtung: Die Ausstellung „Du bist Faust“ in der Münchner Kunsthalle zeigt wichtige Stationen der Rezeption von Goethes Tragödie in der Kunst
Felix Dirsch

Das Faust-Drama, einst Stoff, aus dem Deutschlands primäres Nationalepos entstand, ist „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) par excellence. Jede Epoche kennt ihren Faust. Die Figur ist ebenso alt wie neu. Wer hochaktuelle Passagen des Stückes studieren will, dem seien (neben vielen anderen) die Hinweise auf Geld und Religion empfohlen. Die Überlieferung, die ins 16. Jahrhundert zurückgeht, hat die Gemüter von Anfang an erregt. Kein Geringerer als Luther sah die Herausforderung für den Glauben, die diese so markante Gestalt verkörpert. Sie personifiziert neuzeitlichen Tatendrang ebenso wie dessen Scheitern. Nirgendwo ist die allgegenwärtige Dialektik von Aufklärung und Moderne anschaulicher dargestellt als in Goethes meisterhafter Dichtung. Der allwissend sein wollende Grübler (samt seinem dämonischen Begleiter), der ins Innerste der Welt blicken will und selbst mit der Kreierung eines künstlichen Menschen liebäugelt, ist wie geschaffen, in sämtlichen Bereichen von Kunst und Literatur als Zentralgestalt zu fungieren.

Dieser Stellung geht die aktuelle Ausstellung in der Münchner Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung nach. Im Vordergrund steht die Relevanz der Erzählung für den Einzelnen, weniger für das Kollektiv wie in früheren Zeiten. Die weltanschauliche Instrumentalisierung des Rast- und Ruhelosen ist mit dem Ende der Ideologien beendet. Er fungiert wieder als alleiniges Sujet in Literatur und Kunst.

Grundzüge der Tradierungsgeschichte

Im ersten Saal wird der Besucher mit einigen grundlegenden Kenntnissen der Tragödie vertraut gemacht. So erfährt man Grundzüge der Tradierungsgeschichte seit dem späten Mittelalter, die Goethe sein ganzes Leben lang beschäftigt hat. Er ahnte, daß sich hier ein Schlüssel für das Schicksal der Menschheit finden läßt – ein prophetischer Blick, der das Zeitalter der Gentechnik auf verblüffend realistische Weise aufblitzen läßt.

Der Parcours führt anhand von mehr als 150 Gemälden, Graphiken, Skulpturen, Fotografien, Filmszenen und anderen Medien die enorm reichhaltige Rezeption von Goethes Protagonisten vor Augen. Den roten Faden bilden die einzelnen Hauptabschnitte des Dramas. So ist der Aufbau leicht nachvollziehbar.

Naheliegend ist es, daß der „Prolog im Himmel“ dem Besucher mittels einiger Ausschnitte aus der berühmten Gründgens-Inszenierung von 1960 mit Will Quadflieg als Faust präsentiert wird. Der Herr thront vor einem barocken Strahlenkranz, während die Engel als göttliche Boten auftreten. Ein weiteres theaterdramaturgisches Meisterwerk ist das von István Szabó geschaffene (mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle) gut zwei Jahrzehnte später.

Weitere Schwerpunkte der Schau sind Fausts unheimlicher Begleiter, die ominöse Wette, aber auch die Verstrickungen der Gretchen-Episode. Eindrucksvoll ist Mark Antokolskis Mephisto-Skulptur aus dem Jahr 1883, die dem „Denker“ Rodins nachgebildet ist. Sie zählt zu den herausragenden Ausstellungsstücken. Mephisto bewirkt eine Reduktion Fausts. Aus Liebe wird reine Triebstruktur. Die Verbindung beider so unterschiedlichen Kräfte ist vielfältig, manchmal kommt es sogar zur Verkehrung der Rollen. Der Maler Eduard von Grützner arbeitete die Zusammenhänge von Faust und seinem Alter ego in seiner diabolischen Bühnenfigur 1872 pointiert heraus.

Auch die Welt des Studierzimmers wird dargestellt, auf Margarete, Fausts Geliebte, ausführlich eingegangen. Sie war stets ein begehrtes künstlerisches Motiv, nicht selten verkitscht. Vor allem das Spinnrad eignet sich als dankbares Attribut. Gezeigt werden Gemälde unter anderem von Ary Scheffer, Hendrik Leys, James Tissot, aber auch etliche Motivpostkarten. Von den Darstellungen aus jüngerer Zeit ist Anselm Kiefers Bild aus dem Jahre 1981 („Dein goldenes Haar Margarethe“) hervorzuheben, das einen Hinweis auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ gibt. Hier zeigt sich in besonderer Weise der Umbruch der Faust-Symbolik nach 1945. Denn vor dieser Zeitwende stand Faust für etwas exemplarisch Deutsches im emphatischen Sinn („faustisches Zeitalter“ nach Spengler); dessen Auserwählte wurde Teil der durch den Nationalsozialismus pervertierten deutschen Kultur. Karl Lagerfeld stellte aus seinem Privatbesitz einen Acryldruck zur Verfügung, der in einem Ausschnitt Claudia Schiffer als Margarete zeigt.

Die Schau spart auch die Opernbühne nicht aus. Die Faszinationsgeschichte Margaretes reicht von Charles Gounod bis Martin Scorsese. Von den Gemälden, die die Gretchen-Tragödie darstellen, ist vielleicht die sozialkritische Auseinandersetzung Käthe Kollwitz’ mit dem Kindsmord die beeindruckendste. 

Als weiterer Höhepunkt der Präsentation kann das wollüstige Treiben der Walpurgisnacht gelten. Selbst moderne Künstler wie Willi Baumeister („Wallpurgis“) verfielen dem Bann von schwarzer Magie, Zauberei und der Welt von Hexen und Teufeln.

Angesichts der weitgehenden Auflösung kausaler Bezüge in Faust II und des dortigen Fehlens mit Faust I vergleichbar einprägsamer Handlungen verwundert es nicht, daß die Bildersprache für den zweiten Teil der Tragödie mit der Reichhaltigkeit der Motive des ersten Teils nicht konkurrieren kann. Ganz vergessen jedoch sind sie deswegen nicht. So sind Illustrationszyklen von Max Slevogt, Franz Stassen und Max Beckmann zu sehen, ebenso eine repräsentative Auswahl der zahllosen bibliophilen Drucke aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. 

Der Münchner Ausstellung gelingt es wie kaum einer ihrer diversen Vorgängerinnen, den Faust-Stoff anschaulich und in seinem bleibend gültigen Kern herauszustellen. Ja, sie leistet sogar einen kaum genug zu schätzenden Beitrag, das Drama für unsere Gegenwart neu zu entdecken. Folgerichtig lohnt sich auch eine etwaige längere Anreise in das Zentrum der bayerischen Landeshauptstadt.