© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Schrecklichster der Schrecken
Comedian als Wahrsager: Daniel Kehlmann präsentiert ein Panorama der Welt des Dreißigjährigen Krieges
Felix Dirsch

Wer eine berühmte Erzählung über den Dreißigjährigen Krieg sucht, wird rasch fündig. „Der abenteuerliche Simplicissimus“ von Grimmelshausen gilt als erster Prosaroman in deutscher Sprache und nimmt von daher eine Sonderstellung in der deutschen Literaturgeschichte ein. Die zu Schülerzeiten meist lästig empfundene Sprache ist obsolet, seit die kürzlich erschienene Ausgabe mit der Übersetzung von Reinhard Kaiser vorliegt. Er hat das Original aus dem 17. Jahrhundert in heutiges Deutsch übertragen. Im vorigen Jahrhundert erzielte Bert Brecht mit seiner „Mutter Courage und ihre Kinder“ einen bis heute andauernden Erfolg. Er nutzte die enorm vielfältigen Ereignisse des großen Ringens, um seine antikapitalistische Botschaft zu verpacken. Die Marketenderin wird als Verliererin dargestellt, von Nachahmung eindringlich abgeraten.

Ganz so pädagogisch ist die Unternehmung von Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) nicht. Die meisten Rezensenten, einschließlich des gestrengen Literaturkritikers Denis Scheck, lobten die Schrift über den grünen Klee.

Niemand nimmt dem Narr sein Tun übel

Aus der Figur Till Eulenspiegel (Tyll Ulenspiegel), die für das frühe 14. Jahrhundert einigermaßen historisch verbürgt ist, macht Kehlmann einen Zeitgenossen, der rund drei Jahrhunderte später fiktiv das Licht der Welt erblickt. Es stellt eine Leistung dar, mittels dieser Figur einen Blick auf verschiedene Milieus der Zeit zu werfen. Tyll behält seine rätselhafte Gestalt. Sie ist eher schwach konturiert. Augenscheinlich soll sie in erster Linie die Episoden zusammenhalten. Eine Bedeutung scheint darin zu bestehen, den Wahrheitsanspruch der scheinbar Allwissenden zu ironisieren. Diese Absicht wird deutlich am Beispiel des Universalgelehrten Athanasius Kircher, der mit Drachenblut heilen will. Den Beweis muß er indessen schuldig bleiben.

Warum ausgerechnet ein Narr? Er sieht die Welt aus einer anderen Perspektive als „normale“ Menschen. Kehlmann kreiert einen Oskar Matzerath für die Zeit des großen Weltenbrandes. Der Schelm ist Fachmann für Blödheit, ja dafür prädestiniert, sich über die Idiotie anderer lustig zu machen. Niemand nimmt ihm sein Tun übel. Das Symbol der Dummheit par excellence ist freilich der Esel, der sogar sprechen kann, was ihn mit dem Menschen verbindet. Hier zeigt sich einmal mehr der feinsinnige Humor des Autors.

Daß der Schalk wenig zu lachen hat, liegt auf der Hand. Sein Vater, ein Müller, wird als Hexer hingerichtet. Man kannte ihn als einfachen Mann, der dennoch zu viel wußte. Das machte ihn verdächtig. Tiefsinnig sind Kehlmanns Dialoge auch an dieser Stelle – über Schuld und Schuldfeststellung der aufgrund von Hexerei zum Tode Verurteilten. Der Hexencommissarius waltet zuverlässig seines Amtes. Was heute unschwer als Wahn zu entlarven ist, wurde damals von den meisten als völlig real verteidigt. Der Sohn des Hexers wird aus dem Dorf gejagt. Zusammen mit seiner geliebten Nele durchwandert er seine Zeit. Blut, Verwesungsgestank, Pest, Hunger und Leid aller Art werden zu treuen Begleitern. Hart ist es, sich als Schauspieler, Seiltänzer und Bauchredner durchzuschlagen. Das Schicksal schweißt sie zusammen. Für den Leser bleibt es spannend, ob Tyll und Nele ein Paar werden. 

Kehlmann hat sich intensiv mit den historischen Hintergründen beschäftigt. Eigene Vorkenntnisse erleichtern es, der Handlung zu folgen. Ohne diese verheddert man sich leicht im historischen Gestrüpp. So kommen geschichtliche Figuren in größerer Zahl vor, etwa der glücklose Friedrich V., der Winterkönig, seine Frau Elisabeth Stuart – beide tauchen immer wieder auf – Gustav Adolf, Martin von Wolkenstein und Axel G. Oxenstierna. Sie werden ergänzt von zahllosen einfachen Leuten, die mit ihnen in Verbindung treten. Dadurch werden die Episoden so lebendig und anschaulich wie nur möglich. 

Zu den schönsten Passagen des Buches gehört die Begegnung von Tyll mit Elisabeth Stuart („Liz“), die, völlig verarmt, die kurfürstliche Würde für ihren Sohn fordert. Am Ende des Romans gibt der kaiserliche Narr Liz, die friedlich zu sterben hofft, den Rat, daß es vorzuziehen sei, zu leben: „Das ist viel besser“. Ein mutiger Rat nach all dem Erlebten!

Die Komödie sei die einzig vernünftige Antwort auf eine verrückte Welt, heißt es bei Friedrich Dürrenmatt. Es könnte aber auch ein Roman über einen Narren sein, der die Welt im Innersten zusammenhält. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges braucht es eine solche Figur.

Friedrich Schillers bekanntes Wort „Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn“ wird in kaum einem Gegenwartsroman in all seinen Facetten so ausbuchstabiert wie in Kehlmanns neuester Erfolgsschrift. Einfühlsamer läßt sich über Liebe, Leid, Tod, Vermögen und Unvermögen (gerade in Extremsituationen) kaum schreiben.

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2017, gebunden, 474 Seiten, 22,95 Euro