© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Das Internet muß repariert werden
Tech-Pionier Jaron Lanier empfiehlt in seinem neuen Buch, die sozialen Netzwerke zu verlassen
Henning Lindhoff

Jaron Lanier (Interview JF 5/07), einer der Gründerväter der virtuellen Realität, betrachtet Facebook und Google nicht als soziale Netzwerkplattformen. Vielmehr bezeichnet er diese Technologieriesen in seinem neuen Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen mußt“ als Imperien zur Verhaltensänderung.

Ihm geht es um die Frage, wie die Menschen selbstbestimmt bleiben können in einer Welt, in der sie rund um die Uhr überwacht und ständig von Algorithmen bedrängt werden. 

Norbert Wiener, einer der Geburtshelfer der Kybernetik, steht Pate für Laniers Thesen. In seinem Buch „The Human Use of Human Beings“ aus den 1950er Jahren schreibt Wiener: „Man könnte sich ein globales Computersystem vorstellen, in dem jeder ständig Geräte an sich hat, und die Geräte geben ihnen Feedback, basierend auf dem, was sie getan haben, und die gesamte Bevölkerung ist einer gewissen Verhaltensänderung unterworfen. Und eine solche Gesellschaft wäre verrückt, könnte nicht überleben, könnte ihre Probleme nicht bewältigen.“ Was Wiener hier als reines Gedankenkonzept ersann, ist 60 Jahre später längst Realität geworden.Eine bittere Realität, sagt Jaron Lanier. Und er weiß, wer die Schuld trägt. Er und all seine Kollegen, die in den achtziger Jahren das Internet als „rein öffentliches Gemeingut“ etablierten. Diese kostenlosen Zugangsmöglichkeiten nutzten die werdenden Tech-Giganten, um ein diabolisches Geschäftsmodell zu etablieren: Die Nutzer dürfen der Kommunikation und Selbstdarstellung frönen – jedoch nur im Austausch gegen ihre Daten und ihre Privatsphäre.

Daraus sei längst ein Verhaltensänderungsimperium erwachsen. Sie machten sich die Natur des Menschen zunutze, der „extrem sensibel auf soziale Aspekte wie Status, Anerkennung und Konkurrenz reagiert. Im Gegensatz zu den meisten Tieren kommt der Mensch nicht nur völlig hilflos zur Welt, sondern bleibt auch noch jahrelang in diesem Zustand. Wir können nur überleben, wenn wir mit unseren Artgenossen auskommen. Soziale Aspekte sind keine nachgeordneten Prioritäten des menschlichen Gehirns – sie sind die wichtigsten“, schreibt Lanier.

Die Entwickler bei Google, Facebook und Co. wissen ganz genau, daß sie das Potential haben, menschliches Verhalten durch eine Reihe von Reizen zu verändern. In den Online-Netzwerken funktionieren soziale Bestrafung und soziale Belohnung am besten zur Konditionierung. 

Facebook und Co. verändern das Verhalten

Vor wenigen Wochen bekannte Sean Parker, der erste Präsident von Facebook, sich zu seiner Mittäterschaft: „Die Erfinder, die Urheber – Leute wie ich, Mark Zuckerberg, Kevin Systrom von Instagram, all diese Leute – haben das auf einer ganz bewußten Ebene verstanden. Und wir haben es trotzdem gemacht. Wahrscheinlich hat es negative Auswirkungen auf die Produktivität. Wer weiß, was es mit den Gehirnen unserer Kinder anstellt.“ 

Ins gleiche Horn stieß wenig später Chamath Palihapitiya, früherer Vizepräsident von Facebook: „Die von uns entwickelten, schnell reagierenden, dopamingetriebenen Feedbackschleifen zerstören, wie die Gesellschaft funktioniert. Und das ist nicht nur ein amerikanisches Problem – hier geht es nicht um von Rußland geschaltete Anzeigen. Dies ist ein globales Problem. Ich fühle mich sehr schuldig. Ich glaube, in den hintersten Winkeln unseres Bewußtseins wußten wir es alle – obwohl wir immer so getan haben, als ob es wahrscheinlich keine negativen, ungewollten Folgen geben würde. Ich glaube, daß wir im Bauch, ganz tief im Unterbewußtsein, schon immer irgendwie wußten, daß etwas Schlimmes passieren könnte.“ 

Doch allem schlechten Gewissen zum Trotz setzen die Plattformen weiterhin vor allem auf Bestrafung ihrer Nutzer, auf negatives Feedback. Denn sie ist letztlich billiger – und damit die bessere Option fürs Geschäft. Negative Emotionen wie Angst und Wut lassen sich leichter herbeiführen, und sie halten länger an als positive.

Damit habe sich Boshaftigkeit in eine sprudelnde Geldquelle für die Social-Media-Konzerne entwickelt, so Lanier. Das freie Internet, so wie er und viele andere Tech-Pioniere der achtziger Jahre es sich erträumt hatten, ist damit Geschichte.

Die Maschinerie sieht Lanier als nicht reformfähig an. Am Ende bliebe nur die Flucht aus den Plattformen, das Löschen der Konten bei Facebook, Google, Intagram, Twitter und den anderen. Und die Arbeit an neuen Plattformen, die mehr auf das kreative Individuum setzen als auf den destruktiven Massenmenschen.

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen mußt. Hoffmann und Campe, 2018, gebunden, 208 Seiten, 14 Euro