© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Tod im Namen Lenins
Das Ende einer Dynastie: Vor 100 Jahre wurde der russische Zar Nikolaus mitsamt Familie ermordet
Jürgen W. Schmidt

Die Romanows saßen seit 1613 auf dem russischen Thron. Sie galten als eine alteingeführte europäische Dynastie. Der russische Zar Nikolaus II. konnte den deutschen Kaiser Wilhelm II. wie auch den englischen König Georg V. zu seinen engen Verwandten zählen. Obwohl der im fernen Sankt Petersburg residierende Zar Nikolaus traditionsgemäß von den Russen fast gottgleich verehrt wurde und es in der russischen Nationalhymne ausdrücklich hieß „Gott erhalte den Zaren …“, war Zar Nikolaus im Jahr 1917 in der russischen Bevölkerung keineswegs mehr unumstritten. 

Dazu trug viel die vom Zaren abgöttisch geliebte Gemahlin Alexandra Fjodorowna bei, eine geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt und folglich eine Cousine zweiten Grades des Zaren. Die „Deutsche“, wie man sie in Rußland abfällig nannte, war dort trotz ihres Übertritts zum russisch-orthodoxen Glauben nie recht heimisch geworden. Als böses Omen galt, daß es während der Hochzeitsfeierlichkeiten auf dem Moskauer Chodynkafeld 1896 zu einer Massenpanik kam, die mehr als tausend Russen das Leben kostete. 

Zudem brachte die Zarin eine Erbkrankheit in die Familie Romanow ein. Als nämlich die Zarin nach den vier Großfürstinnen Olga, Tatjana, Maria und Anastasia, welche zwischen 1895 und 1901 in schneller Folge geboren wurden, 1904 während des gerade laufenden russisch-japanischen Krieges den langersehnten Thronfolger Alexej zur Welt brachte, erwies sich der Junge mit der genetisch bedingten „Bluter“-Krankheit behaftet und war folglich selbst bei geringsten blutenden Verletzungen vom Tod bedroht. 

Im russischen Volk begann man darüber zu munkeln, daß „die Deutsche“ dem Zaren kein Glück bringe, und der fatale Ausgang des Krieges mit Japan 1905 und der damit einhergehende Ausbruch der Revolution von 1905/07 bewiesen das. Obwohl Rußland ein flächenmäßig großes, bevölkerungsstarkes, rohstoffreiches Land war, zeigten sich die Industrie wie der Parlamentarismus und die Demokratie nur ganz rudimentär entwickelt. Rußland glaubte sich als Großmacht sowohl von seinem unmittelbaren Grenznachbarn Deutschland in Europa wie auch in Asien von England ernsthaft bedroht und man schloß deswegen ein enges politisches und militärisches Bündnis mit dem gleichfalls Deutschland feindselig gegenüberstehenden republikanischen Frankreich. 

Als Geisel der Bolschewiki nicht mehr gebraucht

Zar Nikolaus war, ungleich seinem vermutlich nur nominellen Vorfahren Peter dem Großen, ein geistig eher unbedeutender Herrscher. Als schließlich noch der nach 1907 ans Staatsruder gelangte, als Staatsmann bedeutende russische Ministerpräsident Pjotr Stolypin einem von revolutionärer Hand verübten Mordanschlag erlag und die staatlichen und wirtschaftlichen Reformbestrebungen in Rußland Stückwerk blieben, ahnten einsichtsvolle Russen wie etwa der Ex-Außenminister Pjotr Durnowo, daß die Beteiligung des Landes am Ersten Weltkrieg die Büchse der Pandora öffnen würde. 

Das vom energischen, wenig befähigten Cousin des Zaren Großfürst Nikolai Nikolajewitsch geführte russische Heer erlitt gegen die deutschen Truppen eine Niederlage nach der anderen. Selbst die Übernahme des Oberbefehls über das Heer durch den militärisch unbefähigten Zaren bewirkte nicht den dadurch erhofften patriotischen Aufschwung. In den Jahren bis 1916 hart angeschlagen, taumelte Rußland unter dem Zaren in eine revolutionäre Krisis. Dazu trug die Zarin, obwohl im Grunde ihres Herzens zur Russin geworden, durch ihre Beziehungen zum sibirischen Mönch Rasputin bei. Sie vertraute entgegen dem öffentlichen Urteil blind auf dessen Gaben als Wunderheiler, um das Leben des immer wieder durch Verletzungen gefährdeten Thronfolgers Alexej zu retten. 

Als Anfang 1917 spontane Hunger-unruhen in der Hauptstadt Petrograd ausbrachen (JF 9/17) war das Schicksal der Romanow-Dynastie besiegelt. Zu den deutschen Verwandten konnte man nicht fliehen, schließlich waren das die Kriegsfeinde. Der englische König Georg V. zog ein Asylangebot schnell wieder zurück. Allerdings wurden die Mitglieder der abgesetzten Zarenfamilie inklusive des Ex-Zaren von der zeitweiligen russischen Regierung unter Alexander Kerenski in einem verhältnismäßig komfortablen Hausarrest gehalten, dem irgendwann eine Gerichtsverhandlung folgen sollte. 

Nikolaus II. fühlte sich anfangs sogar erleichtert, weil er die ihm schwer gewordene Regierungsbürde nicht mehr tragen mußte. Doch alles änderte sich schnell nach dem Machtantritt der Bolschewiki. Zuerst wurde die nunmehr nur noch als Geisel gegen die aufflammende gegenrevolutionäre Bewegung betrachtete Zarenfamilie vom europäischen Teil Rußlands in den Ural verbracht, wo sie unter ruppig auftretenden bolschewistischen Wachmannschaften kein schönes Leben mehr führte. 

Angesichts der akuten Bedrohung des bolschewistischen Rußland im Juli 1918 durch gegenrevolutionäre Aufstände änderte sich alles schnell in Richtung eines letalen Ausgangs. Lenin und sein ihm als Regierungschef dienender Genosse Jakow Swerdlow gaben dem regionalen Uraler Sowjet grünes Licht für die Ermordung der Zarenfamilie, achteten aber strikt darauf, daß ihre Zustimmung unsichtbar blieb. Die Zarenfamilie nebst einigen treuen Dienstboten wurde daraufhin von ihren Wächtern in der Nacht zum 17. Juli 1918 im Keller ihres Aufenthaltsgebäudes brutal niedergemetzelt und der letzten Wertgegenstände beraubt.

Danach versuchte man die Leichen durch Verbrennen und Säure zu vernichten, und man kippte sie zuletzt in einen aufgegebenen Bergwerksschacht nahe Jekaterinburg. Die Heimlichkeit der Mordtat bewirkte, daß später Betrüger auftreten konnten, die wie die vermeintliche Zarentochter Anastasia angeblich dem Gemetzel entronnen waren. Erst beim eintretenden Zerfall der Sowjet-union konnte durch archäologische Ausgrabungen am Beseitigungsort der Leichen, durch DNA-Gutachten der vorgefundenen Knochen  und das nunmehr mögliche Studium von Archivquellen der genaue Ablauf des Zarenmords inklusive der Verantwortlichkeit von Lenin und Swerdlow festgestellt werden. 

Die meisten Russen nahmen nun eine andere Haltung zu ihrem „Märty-rerzaren“ ein als ihre Vorfahren im Juli 1918. Das bezeugt allein die Tatsache, daß am 20. August 2000 der Zar inklusive seiner Familienangehörigen unter die Heiligen der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wurde.