© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Ihre Propaganda war zu offensichtlich
Im Juli 1943 wurde das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gegründet / Wenig Resonanz bei deutschen Kriegsgefangenen der Sowjets
Stefan Scheil

Das Jahr 1943 gilt allgemein als eine machtpolitisch wenig interessante Phase des Zweiten Weltkriegs. Der militärische Kampf hatte sich in vollem Umfang entfaltet, die Alliierten hatten damit begonnen, die bedingungslose Kapitulation des Gegners zu fordern und die deutschen Niederlagen in Stalingrad und Nordafrika deuteten an, daß dies auch tatsächlich am Ende des Konflikts herauskommen könnte. Auch deshalb traf eine im eigentlichen Sinn politische Initiative mit deutscher Beteiligung auf überraschend viel Beachtung: Am 12./13. Juli 1943 fand in Krasnogorsk bei Moskau die Gründungsversammlung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) statt. Für den Moment konnte es so scheinen, als gäbe es doch noch eine Option des Kriegsausgangs, die von deutscher Seite mitgestaltet werden könnte.

Binnensowjetisch gesehen, stellte das NKFD eine fast unvermeidliche Gründung dar, wollten die Sowjets ihren ideologischen Ansprüchen treu bleiben. Nach kommunistischer Außendarstellung und Überzeugung herrschte in Deutschland mit dem sogenannten kleinbürgerlich-faschistischen Nationalismus eine klar definierbare gesellschaftliche Gruppe. Deren innerdeutsche Machtbasis sah die herrschende Moskauer Meinung in bestimmten Wirtschaftsstrukturen, so daß etliche Zeit vor dem Kriegsbeginn im Sommer 1941 bereits der Auftrag an die Berliner Botschaft ergangen war, auch schon ökonomische Umgestaltungspläne für den Fall vorzubereiten, daß „die Rote Armee einmal nach Berlin kommt“. 

Weitgehend ausgeschlossen war es aber in dieser Vorstellung, sich in psychologisierenden Kollektivschuldphrasen oder Spekulationen über den angeblich „autoritären Charakter“ der Deutschen insgesamt zu ergehen, wie sie damals im Westen bereits in Mode zu kommen begannen. Kommunistische Propaganda stellte das Volk in der Regel als Opfer faschistischer Klassenherrschaft dar, ein Opfer, das es also zu befreien galt. 

Alt-KPDler hatten das Sagen im Nationalkomitee

Hier taten sich somit im Jahr 1943 bereits die Gegensätze auf, die dann in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit im sowjetischen Herrschaftsbereich ein ungebrochenes Verhältnis der Deutschen – und anderer Völker – zu ihrer kulturellen Identität erzeugen sollten, im Westen dagegen nur ein heillos neurotisches Selbstbild übrigließen. Mit Folgen, die heute, fünfundsiebzig Jahre später, den Gegenstand täglicher Berichterstattung bilden.

Nun konnten andererseits manche negative Realitäten im Jahr 1943 kaum verborgen bleiben. Im NKFD hatten vorwiegend altgediente deutsche Kommunisten aus der Weimarer Zeit das Sagen, soweit ihnen die sowjetischen Stellen überhaupt eigene Entscheidungen gestatteten. Zu ihnen gehörten die KPDler Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Mutmaßungen, hier ginge es hauptsächlich um gesteuerte Zersetzung der deutschen Streitkräfte, wurden durch Nachkriegsforschungen umfassend bestätigt. Wer als Kriegsgefangener und höherer deutscher Offizier beitrat und öffentlich vorgeschickt wurde, spielte daher nur eine ihm zugeteilte Rolle. Dies war so offensichtlich, daß die intensiven Anwerbungsversuche unter den Kriegsgefangenen auch wenig Resonanz fanden. Als prominentes Aushängeschild des NKFD fungierte letztlich General Walther von Seydlitz, der in Deutschland als ein Kriegsheld der Wehrmacht öffentlichen Ruhm genossen hatte. In Stalingrad in Gefangenschaft geraten, ließ er sich im Herbst 1943 zum Vizepräsidenten des NKFD machen und landete in der Folgezeit zwischen allen Stühlen. Die Sowjets behielten ihn bis 1955 in Haft, frühere Kameraden schnitten ihn lebenslang. Am Ende soll nur seine Frau am Bahnhof gestanden haben, als er in Deutschland ankam. 

Etwas anderes ließ sich ebenfalls nicht übersehen. Ein von der Roten Armee überranntes oder nach sowjetischen Maßstäben umgeformtes Deutschland würde natürlich weder „frei“ noch „unabhängig“ oder gar „demokratisch“ sein, wie es die wohlklingenden Worthülsen der NKFD-Broschüren in Aussicht stellten. Wer an der Ostfront gesehen hatte, für welche völlig enthemmte Gewalt das sowjetische System und seine Armee standen, für den konnte im Gegenteil kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Niederlage der Wehrmacht einer bis dato ultimativen Katastrophe in der deutschen Geschichte gleichkommen würde. Seydlitz selbst sprach trotz aller Kooperationsbereitschaft von „Verhinderung des Einbruchs asiatischer Horden“ als bedeutendem Ziel für das Nationalkomitee.

Für „Tauroggen-Wende“ war es 1943 bereits zu spät

Irgendwelche Garantien dafür, daß dies vielleicht erreichbar sein könnte, wurden nicht angeboten. Bei baldiger deutscher Kapitulation werde sich die Sowjetregierung für die Grenzen von 1937 einsetzen, ließ die sowjetische Kriegsgefangenverwaltung gegenüber einigen Offizieren verlauten. Allerdings fand sich kein Papier, das für diese Behauptung geduldig genug gewesen wäre, es blieb bei mündlichen Zusicherungen.

Als eine wilde Mischung aus billigem sowjetischem Propagandainstrument, Ausdruck patriotischer Verzweiflung, Andeutung realer Rettungsmöglichkeiten und Blaupause für manche politischen Entwicklungen in der späteren DDR – so ist das Nationalkomitee deshalb letztlich einzustufen. Noch einmal wie 1812 eine preußisch-deutsche „Tauroggen“-Wende hin zu Rußland zu vollziehen, das gab das Jahr 1943 allerdings zu keinem Zeitpunkt her. Die politischen Würfel waren wohl tatsächlich bereits gefallen.