© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/18 / 13. Juli 2018

Knapp daneben
Die Unvernunft der Natur
Karl Heinzen

Hätte es noch eines Beweises bedurft, wie wichtig gesundheitliche Aufklärung ist, wäre er durch die AOK-Familienstudie 2018 erbracht. Rund 5.000 Elternpaare ließ der Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen durch das IGES-Institut aushorchen. 76 Prozent der Befragten gaben zur Verblüffung der Demoskopen an, mit ihrem Gesundheitszustand weitgehend zufrieden zu sein. Dabei kann es sich jedoch, wie die Forscher belegen, nur um eine Selbsttäuschung handeln, müßte doch bereits ein bloßer Blick in den Spiegel vielen vor Augen führen, daß in ihren Körpermassen eine Zeitbombe tickt. Die meisten Eltern sind heute überwichtig bis fettleibig. Bewegung in der Freizeit reduziert sich bei ihnen weitgehend auf die Überwindung der Strecken zwischen Kühlschrank, Mikrowelle und Fernsehcouch. Berufliche Belastung kann nicht mehr als Ausrede für körperliche Inaktivität dienen. Sie ist im Vergleich zur vor vier Jahren erstellten Studie markant zurückgegangen. Die gewonnene Zeit wird allerdings nicht in Sport oder gar Kindeserziehung investiert. Man nutzt sie vor allem, um Beziehungsprobleme zu entdecken und auszutragen.

Frühere Generationen konnten ihr Pensum an gesundheitsfördernder Bewegung mit harter Arbeit erfüllen.

Fettleibige Eltern, die mit sich selbst beschäftigt sind, können ihre Kinder nur selten dazu motivieren, den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu folgen und sich wenigstens eine Stunde pro Tag mäßig zu bewegen. Was Fitneßapostel als Schattenseite der Wohlstandgesellschaft skandalisieren, sollte aber viel eher als existentieller Protest gegen die Unvernunft der Natur verstanden werden. Der Mensch ist biologisch auf eine Lebensweise optimiert, über die längst die Zeit hinweggegangen ist. Frühere Generationen konnten ihr Pensum an gesundheitsfördernder Aktivität bereits erfüllen, indem sie lange Strecken zu Fuß zurücklegten und harter körperlicher Arbeit nachgingen. Wir hingegen müssen uns nicht nur in nervlich fordernden und zugleich langweiligen Schreibtischberufen quälen. Wir sollen auch noch unsere knappe Freizeit opfern, um unseren Körper durch stupide Bewegung bei Laune zu halten. Mit welchem Recht kann er dies verlangen?