© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Seismische Schwingungen
Rückzugsgefechte: Ein kritischer Debattenbeitrag der „Zeit“ zur Seenotrettung von Migranten durch private Organisationen hat einen wüsten Proteststurm ausgelöst
Thorsten Hinz

Das Medien- und Twitter-Gewitter, das in der vergangenen Woche über die Zeit-Redakteurin Mariam Lau hereinbrach, hat eine verkarstete, aber von seismischen Erschütterungen durchzogene Diskurslandschaft erhellt. Blitz und Donner wurden ausgelöst durch einen Debattenbeitrag Laus zu den sogenannten Seenotrettern im Mittelmeer. Nüchtern stellt sie fest, daß die NGO-Aktivisten nichts zur Problemlösung beitrügen. Vielmehr seien sie fest eingeplante Akteure im Geschäftsmodell der Schlepper. Die Schiffbrüchigen hätten zwar Anspruch auf Rettung, aber nicht auf ein Zielland ihrer Wahl.

Im Unterschied zu den meisten ihrer Kritiker verfügt Lau über Erfahrungen aus erster Hand. Sie hatte sich einen zweiwöchigen Aufenthalt auf einem NGO-Schiff zugemutet und erfahren, welche Geisteshaltung die Aktivisten beherrscht. Sie handelten aus angemaßter moralischer Überlegenheit heraus, ohne einen Gedanken an die Folgen ihres Tuns zu verschwenden und Rücksicht auf die ungefragten Aufnahmeländer zu nehmen. „Stellen wir uns für zwei Minuten vor, wo Europa jetzt stünde, wenn man dem Drängen der Menschenrechtsorganisationen nach Legalisation aller Wanderungsbewegungen, ob Flucht oder Armutsmigration, nachgegeben hätte. Nach einem Europa ohne Grenzen. Eine Million, zwei Millionen, drei Millionen. Wie lange würde es wohl dauern, bis die letzte demokratische Regierung fällt?“ 

In der Sache listet der Text reine Selbstverständlichkeiten auf, seine Diktion ist maßvoll. Er enthält Anregungen und Ansatzpunkte für die überfällige, ins Prinzipielle gehende Aussprache über Migration, Menschenrechte, über Europas Recht auf Selbsterhalt. Das reichte aus, um die fossilen Platzhirsche in Politik und Medien in Panik zu versetzen.

„OMG“, stöhnte die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, die über „geschenkte“ Menschen schwadroniert und ihre Freude über die Veränderungen kundgetan hatte, die Deutschland durch die Masseneinwanderung ins Haus stünden. Eine namentlich nicht erwähnenswerte Redakteurin der Süddeutschen Zeitung kam auf die vulgäre Tour: „Ihr habt doch den Arsch offen“, twitterte sie aus München nach Hamburg.

Im Vergleich dazu fiel die Reaktion Heribert Prantls in der Süddeutschen dezent aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz muß der sicherste aller sicheren Sätze sein und bleiben.“ Doch warum soll die menschliche Würde gleichbedeutend mit dem Recht auf Einwanderung nach Europa sein? Eine Würde haben auch die Europäer, die durch die aufgezwungene Einwanderung und die Übergriffigkeit von Migranten einerseits und die Arroganz der politischen und medialen Eliten andererseits permanent verletzt wird.

Der Chef der Satirezeitschrift Titanic postulierte als moralisches Gebot, der Autorin „täglich brühend heißen Kaffee ins Gesicht“ zu kippen. Außerdem brachte er Erschießungen ins Spiel – was natürlich ausschließlich satirisch gemeint war.

Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit und die Inkarnation der linksgrünen Medienhegemonie, äußerte sich dennoch geschockt über die Rückmeldungen. „Ich habe heute am eigenen Leib mitbekommen, wie es ist, wenn die flüchtlingsfreundliche Gemeinde ins Gefecht zieht.“ In einem zweiten Tweet ergänzte er: „Ich kann besser erspüren, warum Leute aus Trotz weiter nach rechts gehen. Ich bin kein fragiles Gemüt, bei mir wird das nicht passieren. Aber man sollte schon mal überlegen, ob Humanismus mit nichthumanem Sprechen erreicht werden kann.“

Was der Zeit-Redakteurin Gott sei Dank nur angedroht wurde, haben konservative und rechte Merkel-Kritiker am eigenen Leib erfahren bis hin zu schweren Körperverletzungen und gelockerten Radmuttern am Auto. Mit dem schrillen Tonfall auf ihrem Online-Auftritt gegen alles, was rechts einer weit nach links verschobenen Mittelachse steht, und ihrer Patenschaft über das Denunziationsportal „Störungsmelder“, das Andersdenkende als Zielscheibe ausweist, hat auch die Zeit zur geistig-moralischen Ausstattung jener Meinungsklientel beigetragen, deren Aggressivität sie nun einholt und erschreckt.

In der enthemmten Sprache entladen sich die Frustration und die Desorientierung des Juste milieu, deren Leitorgan das Hamburger Wochenblatt nach wie vor ist. Dieses Milieu ahnt, daß seine hypermoralische Haltung zu einer suizidalen Gefahr geworden ist, und weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Manche steigern sich in Selbstauslöschungsphantasien hinein. „Die Menschen sprengen sich für Allah in die Luft – weshalb sollen sie dann nicht ihre Gesellschaft für die Menschenrechte zerstören?“ fragte der Historiker Rolf Peter Sieferle in seiner Studie „Das Migrationsproblem“. 

Andere möchten die Einsichten so lange es geht von sich schieben, auch weil ihr Eingeständnis mit einem intellektuellen, moralischen und gesellschaftlichen Prestigeverlust verbunden wäre. Zu diesem Zweck wird Horst Seehofer, der als Innenminister nichts anderes tut, als auf Recht und Gesetz zu pochen, pathologisiert und durch einen Spiegel-Buben ein Mangel an „sittlicher Reife“ attestiert. Nun ist die CSU für dieses Milieu ein Gegner aus alter Gewohnheit. Der Artikel Mariam Laus in der Zeit bedeutet hingegen den Einbruch der feindlichen Meinung in die eigenen Reihen.

Der Homo bundesrepublicanus, von der neuen Wirklichkeit überfordert, steckt in einer tiefen Orientierungskrise. Jahrzehntelang war er von der westlichen Vormacht beschützt, von den großen Entscheidungen aber auch ferngehalten worden. So konnte er sich der Kultivierung seiner moralischen Befindlichkeiten widmen und Ruhm als humanitäre Supermacht gewinnen. Dem Übermaß an Gesinnungsethik entsprach die Unfähigkeit zur Verantwortungsethik, die sich aktuell in der Unfähigkeit zur politischen Argumentation und Lageanalyse niederschlägt. Die Hypermoral bildet die letzte Verteidigungslinie der Desorientierten, und mit entsprechender Wut wird sie verteidigt.

Nicht umsonst gehörte Norbert Blüm, der von 1982 bis 1998 als Bundesarbeitsminister amtierte, zu den beliebtesten Politikern der Kohl-Ära. „Wir, die Bewohner der  Wohlstandsinsel Europa, sind die Hehler und Stehler des Reichtums der sogenannten Dritten Welt“, verkündete er gerade in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung, „auf deren Kosten und Knochen haben wir uns bereichert. Die Bodenschätze Afrikas haben wir ausgeraubt.“ Wenn 500 Millionen Europäer „keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden ‘Europa’ wegen moralischer Insolvenz“, so Blüm. Damit hat der 82jährige ein Niveau erklommen, auf dem sich vor immerhin sechzig Jahren der Marxist Frantz Fanon tummelte. Insolvenz meldet hier vor allem Blüm an. Zur Erinnerung: Die Länder Südostasiens waren ebenfalls europäische Kolonien. Heute existieren dort wohlhabende Boomregionen.

Die politischen und Diskurslager sortieren sich allmählich neu. Der alte Links-Rechts-Konflikt bleibt bestehen, wird aber überlagert von der Auseinandersetzung zwischen den offensiven Globalisten und den defensiven Anhängern des Nationalstaats beziehungsweise eines Europa, das sein Gesicht bewahren will. Auf der einen Seite stehen linke Universalisten, Wirtschaftsliberale und Neokonservative, die aus unterschiedlichen Gründen von der „Einen Welt“ träumen, auf der anderen Seite linke Verteidiger des – oft hypertrophierten – Sozialstaats, Nationalliberale, die meinen, daß Demokratie und Rechtsstaat einen gehegten Raum benötigen, sowie Kultur- und Nationalkonservative, denen die globale Gleichschaltung auf Minimal-Niveau ein Greuel ist. Ihnen kommt zunehmend zugute, daß die Globalisten kein kohärentes Zukunftsmodell präsentieren können, das aus europäischer Sicht attraktiv erscheint.

Der Spiegel-Mitgesellschafter Jakob Augstein, der Mariam Lau indirekt vorwarf, mit dem Zivilisationsbruch zu kokettieren, bekannte sich in seiner Kolumne zu den negativen Folgen einer fortgesetzten Politik der offenen Grenzen: „Weil sich die Einwanderung nicht mit dem bisherigen Sozialstaat verträgt, entscheiden wir uns für die Einwanderung und für einen anderen Sozialstaat“, denn „wenn der Preis für unseren Sozialstaat die Toten im Mittelmeer sind, ist er es nicht wert“. Als Alternative entwarf Augstein „eine andere Idee von Deutschland: Ein neuer ‘Schmelztiegel’, in dem Menschen aus Europa, dem Nahen Osten und Afrika gemeinsam eine neue Nation erschaffen“.

In dieser verächtlich-provozierenden Vision vom „Neuen Menschen“ ist der Restmüll der verbrecherischen Groß-ideologien des 20. Jahrhunderts versammelt. Um sie sich leisten zu können, muß man schon ein väterliches Millionenerbe hinter sich wissen. Statt einer detaillierten Auseinandersetzung mit Augstein braucht es hier nur, auf Brechts „Lied vom Klassenfeind“ zu verweisen. Denn solche Stimmen sind zwar laut, haben ihre Überzeugungskraft aber eingebüßt. Das versetzt die Gegenseite in die Pflicht, sich nicht in Gegenprovokationen zu erschöpfen, sondern an der Schärfung der Argumente zu arbeiten. Damit aus den seismischen Schwingungen in der Meinungslandschaft ein Beben wird.