© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Eine Frage der Staatsräson
NSU-Mysterium: Auch nach dem Urteil gegen Beate Zschäpe bleiben zahlreiche Unstimmigkeiten
Thorsten Hinz

Die Eindeutigkeit des Urteils des Oberlandesgerichts München, das im NSU-Prozeß gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe verhängt wurde, trügt. Auch nach jahrelangen Ermittlungen und 437 Sitzungstagen liegt dichter Nebel über den Morden an neun türkischen und griechischen Kleinhändlern und der Polizistin Michèle Kiesewetter. Obwohl Zschäpe an keinem der Tatorte gewesen ist, werden ihr aufgrund eines „gemeinschaftlichen“, „bewußten und gewollten Zusammenwirkens“ die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) voll angelastet. Das impliziert, daß Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die zwei toten Mitglieder des Gaunertrios, tatsächlich die Morde begangen haben. Doch was das Gericht voraussetzt, ist alles andere als sicher.

Der ehemalige Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Clemens Binninger (CDU), sagte im Deutschlandfunk, die Behörden hätten zwar intensiv ermittelt, aber „sich vielleicht zu früh festgelegt und (…) gesagt, diese Hypothese ist für uns die überzeugendste seitens der Ermittler, und wir haben letztendlich auch keine neuen Beweise finden können, aber natürlich eine Reihe von Zweifeln. (…) Die Auswahl mancher Tatorte ist ja so ungewöhnlich, daß viele gesagt haben, auch Zeugen bei uns, dazu braucht man eigentlich Ortskunde, da fährt man nicht zufällig, aus Zwickau kommend, daran vorbei oder darauf zu. Wir haben den Umstand, daß wir an keinem der 27 Tatorte DNA von Mundlos und Böhnhardt gefunden haben, keine Fingerabdrücke, auch keine ganz klaren Zeugenaussagen, all diese Dinge. Und es bleibt auch offen zu sagen, kann man so etwas wirklich begehen, gerade Anfang der 2000er Jahre, mit hohem Fahndungsdruck noch nach dem Trio, wo man das Trio ja noch gesucht hat, ohne jemals entdeckt zu werden, ohne Spuren zu hinterlassen, ohne wirkliche Helfer am Tatort gehabt zu haben?“

VS-Akten sollen für 120 Jahre gesperrt sein

Als Kenner der Materie hat Binninger starke Zweifel an der offiziellen Darstellung der Tathergänge. Als Politiker bleibt er auf die NSU-Täterschaft festgelegt und kann es sich nicht leisten, die mindestens ebenso plausible These, daß es sich beim NSU um ein Phantom handelt, auch nur in Erwägung zu ziehen. Apropos Phantom: Lange Zeit geisterte ein „Heilbronner Phantom“ als Mörder der Polizistin Kiesewetter durch den Raum, das schließlich auf ein verunreinigtes, zur DNA-Probe benutztes Wattestäbchen zurückgeführt werden konnte. Damit nicht genug, wurde aufgrund eines kontaminierten Zollstocks ein Zusammenhang zwischen dem NSU und dem Sexualmord an einer Neunjährigen im Jahr 2001 kurzzeitig behauptet. Das zeugt weniger von der Professionalität der Ermittlungen als von Improvisation und Ausflucht.

Erst das Auffinden der Dienstpistolen Kiesewetters und ihres schwerverletzten Kollegen Martin A. im Wohnmobil, in dem Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 nahe Eisenach Selbstmord verübt haben sollen, führte die Ermittler auf die NSU-Spur. Wobei sich die Frage aufdrängt, warum die beiden Uwes die Dienstpistolen, die sie im Fall der Entdeckung schwer belasten mußten, überhaupt bei sich führten. Ungeklärt ist auch, warum die zwei in Eisenach aufgaben. „Waffen, um sich gegen zwei Polizisten zu wehren, die sich damals ihrem Wohnmobil näherten, hatten sie in ausreichender Zahl dabei“, befand 2014 sogar der Spiegel. Viele Akten des Verfassungsschutzes wurden geschreddert, andere für 120 Jahre unter Verschluß genommen. Es gibt zahllose weitere Unstimmig- und Merkwüdigkeiten. Nichts ist klar und eindeutig nach dem Prozeß. Der NSU bleibt weiterhin ein Mysterium.

Um dem Verfahren gerecht zu werden, muß man es als ein metajuristisches Ereignis betrachten, das in einen sehr bestimmten politisch-medialen Kontext eingebettet war. Als Quintessenz und vorläufigen Kulminationspunkt der Berichterstattung zogen am Tag der Urteilsverkündung während der Eröffnungsmusik der ARD-Tagesschau im Hintergrund die Porträts der Opfer vorbei – in kolorierte Zeichnungen umgewandelte Fotos, die auf eine ikonisch-suggestive Wirkung abzielten. Die Festlegung, von der Clemens Binninger sprach, erfolgte früh und zwar von von ganz oben. 

Wenige Tage nachdem die NSU-Enthüllungen an die Öffentlichkeit kamen, im November 2011, legte der Bundestag eine Gedenkminute für die Mordopfer ein, und die Kanzlerin sprach von einer „Schande für Deutschland“. Auf der von Bundesregierung, Bundesrat, Bundestag und Verfassungsgericht veranstalteten zentralen Gedenkfeier im Februar 2012 wurden für die zehn Mordopfer zwölf Kerzen entzündet: Zehn für die Toten, die elfte für alle bekannten und unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt und die zwölfte für die Zuversicht. Damit war die in der griechischen Mythologie und im christlich-jüdischen Religionskreis magische Zahl erreicht und wurden die Ermordeten als Blutzeugen und Stifter eines neuen Gründungsmythos der Bundesrepublik geheiligt. So schrieb die FAZ von einem „Markstein im Zusammenwachsen der Bevölkerung Deutschlands“. Spätestens von dem Tag an konnten die Ermittlungen nicht mehr ergebnisoffen sein und war die Bestätigung der NSU-Theorie eine Frage der Staatsräson geworden.

Eine Hypothese wurde als Tatsache präsentiert

Die Medien verschmolzen mit der Politik zu einer kompakten Interessengemeinschaft. Von Anfang an sind Journalisten als Partei aufgetreten und haben fast durchweg die Hypothese eines rechten Terrornetzwerks als bewiesene Tatsache präsentiert. Stereotyp war von der „Zwickauer Terrorzelle“, den „Neonazi-Morden“, der „Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds“ usw. die Rede mit dem Ergebnis, daß sie dem Publikum als unzweifelhaftes Faktum erscheinen mußten. Vom NSU nährte sich eine lange Verwertungskette, zu der neben Politikern und Journalisten auch Sachbuchautoren, Extremismus-Experten, Verbandsvertreter und Künstler gehörten.

Die Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ war seit 2012 in 166 Städten zu sehen, in diesem Jahr wurde sie aktualisiert. Es fanden und finden Theateraufführungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen rund um den NSU statt. Der begabte Fatih Akin drehte den Thriller „Aus dem Nichts“. Im Unterschied beispielsweise zu Oliver Stone („JFK – Tatort Dallas“), der den Finger auf die Schwachstellen und Widersprüche in den offiziellen Darstellungen legte, machte Akin sich die Version der Behörden zu eigen. Dafür bekam er immerhin einen Golden Globe – die Amerikaner lieben nun mal Nazi-Geschichten aus Deutschland.

In der Tagespolitik legitimiert und befeuert der NSU den „Kampf gegen Rechts“. Längst sind die Toten zu Objekten einer interaktiven Gedenk- und Erinnerungslandschaft geworden, in der Ikonik, Ritual und Erzählung miteinander verschmelzen. Straßen und Plätze wurden nach ihnen benannt, sowohl dauerhaft als auch in temporären Aktionen. Die Oberbürgermeister der sieben Städte, in denen die Morde begangen wurden, verständigten sich darauf, Gedenktafeln zu errichten. Auf ihnen sind alle Opfer namentlich verzeichnet, außerdem enthalten sie die einheitliche Botschaft: „Neonazistische Verbrecher haben zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in sieben deutschen Städten ermordet: Neun Mitbürger, die mit ihren Familien in Deutschland eine neue Heimat fanden, und eine Polizistin. Wir sind bestürzt und beschämt, daß diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“

Einer altersschwachen antifaschistischen Parole wird so neues Leben eingehaucht. Nach dem Prozeß erlebte eine weitere Parole ihre Renaissance: „Keinen Schlußstrich!“ Die Richtung und Wirkungsabsicht sind klar: Dem zivilreligiösen Bezug auf den historischen Nationalsozialismus wird der quasireligiöse Bezug auf einen angeblichen Neonazismus – in der Variante der Fremdenfeindlichkeit – zur Seite gestellt. Der NSU wird zum Ausgangspunkt eines sekundären Schuld- und Opfermythos genommen, der den NS-bezogenen „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer) der Bundesrepublik ergänzt, aktualisiert und ihm neue Energien zuführt.

Erneuerung der Schuldgemeinschaft

In ihm erneuern die Deutschen sich als Schuldgemeinschaft, die nun in der Pflicht steht, Migranten aufzunehmen und zu verköstigen, während diese sich als Opfergruppe definieren und zur Wiedergutmachung auf ihre umfassende Teilhabe pochen können.

Es ist ein Vorgang, der unter dem Titel „Integration“ firmiert und noch einen zusätzlichen Hintersinn in sich trägt: Viele muslimische Zuwanderer denken gar nicht daran, sich die NS- und insbesondere die Holocaust-Schuld auf die Schultern zu laden. Indem man sie einlädt, über den sekundären mittelbar am primären Schuldmythos zu partizipieren und aus ihm Nutzen zu ziehen, wird er für sie akzeptabel, ohne verpflichtend zu sein, während für autochthone Deutsche sich die abzubüßende Schuld vermehrt.

Dieser politisch-medial-zivilreligiöse Deutungsrahmen bestimmte von Anfang an die Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheit des Oberlandesgerichts München, woraus sich der metajuristische Charakter des NSU-Verfahrens ergibt. Das Urteil beschließt eine fünf lange Jahre währende Arbeit am Staatsmythos.