© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Keine positive Traditionsfigur
Rolf-Dieter Müllers kritische Biographie des langjährigen BND-Chefs Reinhard Gehlen
Jürgen W. Schmidt

Es wird behauptet, Gehlen-Biograph Rolf-Dieter Müller von der „Unabhängigen Historiker-Kommission zur Erforschung des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968“ und die Familie Gehlen würden wegen des vorliegenden Buches nur noch per Rechtsanwalt miteinander kommunizieren. Fußnote 308 auf Seite 196 deutet darauf hin, daß daran etwas Wahres sein könnte. Allzu freundlich springt Verfasser Müller mit der Familie Gehlen nicht um, wenn er gleich im ersten Kapitel „Familiengeheimnisse“ seine Version der Existenz eines älteren Bruders bzw. Halbbruders namens Johannes anklingen läßt. 

Zudem dürften die Bemerkungen über den angeblichen Gebrauch von Aufputschdrogen durch den jungen Generalstabshauptmann Reinhard Gehlen oder seine detaillierten Ausführungen über dessen Geliebte und Mitarbeiterin Annelore Krüger genausowenig entzückt haben wie die Darstellung des Nepotismus Gehlens bei der Anstellung von Familienmitgliedern und Verwandten im BND. Zudem ist die Biographie nicht ganz frei von sachlichen Fehlern. Hierzu gehört die falsche Behauptung vom Einsatz des sowjetischen Panzers T-34 im Kampf gegen die Japaner 1939, welcher dem deutschen militärischen Nachrichtendienst damals entging. Doch der T-34 ging erst 1940 in Serienproduktion. 

Zwar dürfte Reinhard Gehlen im Rahmen seiner Ausbildung zum Artillerieoffizier das „Schießen im scharfen Schuß“, aber ganz gewiß nicht das „Scharfschießen mit dem Geschütz“ erlernt haben. Außerdem dürfte es recht vermessen sein, vom Offizier Reinhard Gehlen zu behaupten „ihn habe es nicht zur Kühnheit gedrängt“, was den Vorwurf der Feigheit impliziert. Doch überwiegen in dieser vom Umfang her monumentalen Biographie die neuen Fakten und Details zur Person Reinhard Gehlen jene Unstimmigkeiten und Unliebenswürdigkeiten, welche der Verfasser seinem Zielobjekt angedeihen läßt. 

Trotz seiner adeligen Mutter und seiner späteren adeligen Gattin entstammte der künftige BND-Chef einer durchaus bürgerlichen Familie von Beamten und Juristen. Der bedeutende Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen ist ein Cousin des Geheimdienstlers. Reinhard Gehlen kam 1902 im thüringischen Erfurt zur Welt, wuchs aber in Breslau auf und diente als junger Offizier in schlesischen Garnisonen. Er dürfte sich als Schlesier gefühlt haben. 

Amerikanern sein Wissen über die Sowjets angedient

Intelligent, karrierebewußt und stets dienstbeflissen, bereitete sich Reinhard Gehlen auf die Generalstabslaufbahn vor und absolvierte die Berliner Kriegsakademie als einer der besten Offiziere seines Jahrgangs. Seine Belohnung war der Einsatz im Oberkommando des Heeres, besonders die Verwendung als Adjutant von Generalstabschef Franz Halder, der auf seinen hochbefähigten Unterstellten nichts kommen ließ. Die letztlich entscheidende Wende im Lebensschicksal Gehlens löste indessen Adolf Heusinger aus, der Oberstleutnant Gehlen Anfang 1942 für die Stelle als Abteilungsleiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO) empfahl. 

Gehlens Amtsvorgänger Oberst i. G. Kinzel war nämlich ein Frohgemüt gewesen und hatte auf Halders bohrende Fragen zum sowjetischen Gegner lächelnd erwidert: „Ja, da müssen wir Stalin mal fragen. Das kann ich nicht wissen.“ Unter Gehlen sollte das anders werden. Der kein Wort Russisch sprechende Gehlen brachte Schwung in die verlotterte Abteilung FHO, stellte die Gegneranalyse unter Nutzung von befähigten jüngeren Offizieren und russischsprechenden Hilfskräften auf wissenschaftliche Methoden um und konnte deshalb binnen kurzem auf Fragen über die militärischen Absichten Stalins befriedigendere Antworten als Oberst Kinzel geben. 

Doch es dürfte Gehlen persönlich getroffen haben, als Halder seinen neuen Chef FHO zu einem ersten Auftritt zu Hitler mitbrachte und dieser seiner Abneigung mit den Worten „Ach, lassen’s mir den Märchenerzähler doch draußen“ kundtat. Daß der „Märchenerzähler“ die Zukunft gut zu prognostizieren verstand, zeigte Gehlen mindestens bei Kriegsende, als er auf die Amerikaner setzte und den US-Nachrichtendiensten sein Wissen über die Sowjetunion und deren Rote Armee förmlich aufdrängte. Die vielen Winkelzüge, wie sich Gehlen den Amerikanern anpries und unentbehrlich machte, wie er Verbündete gewann und aus dem Nachkriegs-Nichts seine „Org Gehlen“ aufbaute, hat Rolf-Dieter Müller gut beschrieben. Zudem parkte Gehlen viele frühere Generalstabsoffiziere zeitweilig bis zur Aufstellung der Bundeswehr bei seiner Organisation, bezog Nachrichtenbeschaffungs- und Spionageabwehrexperten in seine Strukturen ein, selbst wenn diese von SD und Gestapo kamen und bewährte sich so als Nachrichtendienstorganisator. Eigentlich war Gehlen bis1945 „nur“ ein Experte für die Auswertung von taktischen und operativen Meldungen über den Gegner gewesen. 

Von nachrichtendienstlicher Beschaffung, strategischer Aufklärung und Spionageabwehr verstand er bis 1945 nichts, denn dafür war FHO nicht zuständig. Mit Politik hatte sich Gehlen vor 1945 auch nicht groß befaßt, weder mit der Innen- noch mit Außenpolitik. So schockte ihn Bundeskanzler Konrad Adenauer, als sich ihm Gehlen als Verantwortlicher für Feindnachrichtendienst gegen den Osten vorstellte, sogleich mit der unverhofften Frage „Und wat machen Sie gegen den Westen?“ 

Gehlen war tatsächlich schockiert, denn mit den US-Amerikanern und auch mit dem französischen Geheimdienst hatte er bis 1952 bereits recht gute Beziehungen hergestellt, und nur die Briten rieben sich penetrant daran, daß ausgerechnet ein Ex-Wehrmachtsgeneral den neuen bundesdeutschen Nachrichtendienst leiten sollte. 

Gehlen pflegte eifrig seine alten antisowjetischen Feindbilder und wurde darin bestätigt, als der ihm verfeindete Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John 1954 in die DDR überwechselte. Der Skandal um den Sowjetspion Heinz Felfe im BND 1961, welcher ein Ziehsohn von Gehlen gewesen war, kostete ihn dagegen viel von seiner fachlichen Reputation. Nur dank seiner Nervenstärke und der mittlerweile erlangten Gerissenheit in bürokratischen Ränken entging Reinhard Gehlen während der Spiegel-Affäre 1962 der ihm drohenden Verhaftung. Zermürbt durch Intrigen und verschlissen durch innerbetriebliche Auseinandersetzungen schied Gehlen schließlich entnervt 1968 aus dem BND und verstarb 1979. Rolf-Dieter Müller betrachtet Reinhard Gehlen zwar als eine „historisch wichtige Figur der Frühgeschichte der Bundesrepublik“, hält ihn aber trotzdem für keine „positive Traditionsfigur“ des BND.

Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2017, 2 Bände, 1.376 Seiten, Abbildungen, 98 Euro