© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/18 / 20. Juli 2018

Der Nürnberger Kodex bleibt aktuell
Umstrittene Dieselabgastests: Argumente zur Versachlichung des Konfliktthemas Humanexperimente
Dieter Menke

Stromlinenförmig und politisch korrekt – das ermöglichte Steffen Seibert vor acht Jahren den Aufstieg vom ZDF-Moderator zum Regierungssprecher und Staatssekretär. Der 58jährige weiß daher auch, was in der Dieselaffäre medial gut ankommt: „Diese Tests an Affen oder sogar Menschen sind ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen“, sagte Seibert am 29. Januar im Namen der Bundesregierung. „Die Empörung vieler Menschen ist absolut verständlich.“ Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) schlug in dieselbe Kerbe: „Zehn Affen stundenlang mutwillig Autoabgase einatmen zu lassen, um zu beweisen, daß die Schadstoffbelastung angeblich abgenommen habe, ist widerlich und absurd.“

Affen als Versuchstiere bei amerikanischen Instituten

Auf die dreistelligen Millionenzahlungen, die der niedersächsische 20-Prozent-Anteil an Volkswagen jedes Jahr in die Landeskasse spült, will der VW-Aufsichtsrat dennoch nicht verzichten. Auch die jährlichen Steuermilliarden, die Audi, BMW, Daimler, Porsche und VW an die öffentlichen Haushalte überweisen, werden dennoch gern genommen – und das kann wohl sogar mit gutem Gewissen geschehen. Denn selbst die angeblichen „Menschenversuche“ entpuppten sich als Variante einer seit Jahrzehnten praktizierten Forschungsroutine.

Zuletzt waren 25 Studenten – Freiwillige, mit Einverständnis der Ethik-Kommission – an der RWTH Aachen sowie an der TU und LMU München drei Stunden lang geringen, gesundheitlich unproblematischen Mengen Stickstoffdioxid ausgesetzt worden. Dabei ging es um NO2-Auswirkungen am Arbeitsplatz. Das amerikanische Lovelace Respiratory Research Institute testete für die deutschen Autohersteller tatsächlich mit Dieselmotoremissionen, aber ausschließlich mit Affen als Versuchstiere.

Für den Wissenschaftshistoriker Martin Schneider zeigt der hysterische „Aufschrei in Medien und Politik“, welches Empörungspotential unter dem Schlagwort „Menschenversuch“ heute noch jederzeit abrufbar ist. Vor allem deshalb, weil die deutsche Öffentlichkeit Humanexperimente zwanghaft mit NS-Verbrechen assoziiert. Um auf solche Engführungen zu antworten und zur Versachlichung der Thematik beizutragen, weist Schneider auf ihre tiefere historische, weitere internationale und komplexe ethische Dimension hin (Naturwissenschaftliche Rundschau, 5/18).

Die Geschichte medizinischer Untersuchungen zunächst am toten Körper setzt in Europa erst mit dem Ende des Mittelalters ein, da zuvor die christliche Auffassung anatomischen Untersuchungen des menschlichen Leibes entgegenstand. Erst im 19. Jahrhundert, mit Impfungen und wissenschaftlich geleiteter Suche nach Therapien, fanden in großem Maßstab wirklich Versuche am lebenden Körper statt. Was, aufgrund des damals „sehr unbefangenen Umgangs mit dem Untersuchungsobjekt Mensch“, nahezu unvermeidlich Skandale zeitigte.

Konnte es doch bei der Rekrutierung unfreiwilliger Versuchspersonen die Dienerschaft des ärztlichen Haushalts genauso treffen wie Patienten in Krankenhäusern oder abkommandierte Soldaten. So erprobte der Breslauer Dermatologe Albert Neisser (1855–1916) auf der Suche nach Impfmöglichkeiten gegen Syphilis sein Serum an weiblichen Klinikpatienten aus der Unterschicht, Prostituierten und Minderjährigen, deren Zustimmung natürlich nicht vorlag.

Immerhin stieß der „Fall Neisser“ einen Mentalitätswandel an, da das Preußische Kultusministerium 1900 per Erlaß alle Klinikchefs anwies, fortan nur geschäftsfähige Probanden zu Humanexperimenten heranzuziehen, die zudem zuvor über die Versuche aufzuklären seien und deren Einwilligung eingeholt werden müsse. Das „Lübecker Impfunglück“ von 1930, nach einer Tbc-Impfung mit vielen Todesopfern im Säuglingsalter, nötigte zur Verschärfung der „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und Versuche am Menschen“.

Mit der NS-Machtübernahme schlug das Pendel zurück, fort von staatlichen Restriktionen zugunsten der Probanden, hin zu ihrem menschenverachtenden „Verbrauch“. 70 Forschungsprojekte, für die 350 Mediziner zwischen 1939 und 1945 mit Menschen experimentierten, endeten in mindestens 7.000 Fällen tödlich. Hinzu kamen 360.000 Zwangssterilisierte. Seitdem haftet dem Begriff „Menschenversuch“ das Odium des Menschheitsverbrechens an.

Zeitgenössische Version des Hippokratischen Eides

Dennoch ist Schneider um Differenzierung bemüht. „Vom Ansatz her durchaus seriös“ gewesen seien die an KZ-Häftlingen vorgenommenen kriegswichtigen Forschungen, die der Überlebensfähigkeit von Soldaten in Extrem- und Notsituationen, der Trinkbarmachung von Meerwasser oder neuen Methoden zur Typhusbehandlung galten. Nur habe man schließlich bei der Durchführung die Menschenrechte ebenso mit Füßen getreten, wie das bei den rassenideologisch motivierten, monströsen pseudomedizinischen Untaten üblich war, etwa Carl Claubergs Sterilisationsversuchen an Jüdinnen und Zigeunerinnen in Auschwitz.

Als Lehre aus diesen NS-Verbrechen formulierten die alliierten Richter des Nürnberger Ärzteprozesses gegen einige Verantwortliche für die KZ-Versuche den „Nürnberger Kodex“ (1947). Umgehend vom neugegründeten Weltärztebund anerkannt, modifiziert im Genfer Gelöbnis von 1948, bestimmt diese medizinethische Leitlinie als zeitgenössische Version des Hippokratischen Eides seitdem die Grenzen für Humanexperimente. Im Zentrum des Zehn-Punkte-Kodex stehen Freiwilligkeit, Aufklärung, minimalinvasive Belastung. Leider, so moniert Schneider, blieben Hintertüren offen. Wie stehe es mit der Freiwilligkeit, wenn Humanexperimente in den globalen Süden verlegt würden, wo genügend arme Probanden bereit seien, für wenig Geld große Testrisiken einzugehen?

In Europa und den USA bedürfte es dafür nicht einmal finanzieller Anreize, weil hier schwerkranke Krebs- und Aids-Patienten die Chance ergreifen könnten, durch Teilnahme an therapeutischen Experimenten von der Entwicklung neuer Medikamente selbst zu profitieren. Und wie verhalte es sich mit einem Alzheimer-Patienten, der in eine Testreihe aufgenommen werden soll? Verschöbe sich hier die Akzeptanzgrenze, weil, wie es in Punkt sechs des Kodex heißt, „die Bedeutung des lösenden Problems für die Menschheit“ dies erlaube?

Der Kodex kann längst nicht alle moralisch verwerflichen oder bedenklichen Eventualitäten des Problems Humanexperiment berücksichtigen. Beängstigend groß sei das Feld geblieben, wo seine Regeln keine Beachtung fanden. Berüchtigte Beispiele dafür sind Syphilis-Versuche des US-Arztes John Charles Cuttler. Ausgeführt in den 1940er Jahren an 1.300 Prostituierten, Häftlingen und geistig Behinderten in Guatemala.

Oder die von 1932 bis 1972 erstellte, von Cuttler initiierte Großstudie an 400 syphiliskranken Afroamerikanern, denen wirksame Medikamente strikt vorenthalten wurden, um den Versuchsverlauf nicht zu stören. Oder die erst 2010 bekannt gewordenen Atomtests in Algerien, wo das französische Militär in den 1960ern Wehrpflichtige radioaktiver Strahlung aussetzte, um die Rückeroberung eines von einer A-Bombe getroffenen Gebiets zu trainieren. Aber Medikamente, die nach Tierversuchen zugelassen werden sollen, müssen auch an Menschen getestet werden. Auch bei der Bestimmung gesundheitsschädlicher Grenzwerte seien diese Tests „nicht wegzudenken“. Sie spiegelten die Normalität medizinisch-pharmazeutischer Forschung. „Menschenversuche“, die einen NS-Vergleich erlauben, seien das nicht.

Aktuelle Fassung des Genfer Gelöbnisses:  wma.net/