© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

„Die Berliner Bürofenster schließen“
Autoindustrie: Fahrverbote führen zu hohen Wertverlusten für Dieselautobesitzer / Fragwürdige Grenzwerte?
Christian Dorn

Im Deutschlandfunk-Kommentar vom vergangenen Sonntag behauptete Hauptstadtkorrespondentin Barbara Schmidt-Mattern, die AfD setze „auf Krawall statt auf Kompetenz“. Wäre sie ihren Kollegen vom WDR und der Welt gefolgt, müßte sie ihr Urteil revidieren. Referierten doch Dirk Spaniel, verkehrspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, und Marc Bernhard, Mitglied im Umweltausschuß, vorige Woche über die Diesel-Fahrverbote aus „ideologischen Gründen“.

Ihre Expertise verschlug dabei manchem den Atem – dabei waren die Fenster im Berliner Jakob-Kaiser-Haus leicht geöffnet, was allerdings, folgt man der Stickoxid-Hysterie, absolut unverantwortlich war. Gestattet doch die Arbeitsstättenverordnung zwanzigmal höhere NOX-Werte als im Straßenverkehr zulässig. Folglich, so der von den AfD-Abgeordnenten zitierte Matthias Klingner, Professor für Systemtheorie und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI), müßten wir „die Bürofenster schließen, um die Luft auf der Straße nicht zu verunreinigen.“

Daher fordert die AfD die Überprüfung der Grenzwerte und der Meßstationen. Tatsächlich, so eine IVI-Studie, entstünden hohe Stickstoffdioxidwerte in der Außenluft vor allem aufgrund meteorologischer beziehungsweise luftchemischer Einflußfaktoren, nicht primär durch Diesel-Fahrzeuge, weshalb Fahrverbote weitgehend wirkungslos seien. Zudem seien die geltenden NO2-Jahresmittelwerte von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter „relativ willkürlich“, da es für sie weder toxikologische noch andere wissenschaftliche Gründe gebe.

So verweist Bernhard auf die Diskrepanz zwischen Arbeitsplatz und Verkehrskreuzung: Während am ersteren der Grenzwert bei 950 Mikrogramm pro Kubikmeter liege, seien es bei letzterer die – bereits zitierten – 40 Mikrogramm. In den USA dagegen liege dieser Wert zweieinhalb mal höher, bei 100 Mikrogramm. Überhaupt würden in Ländern außerhalb der EU erheblich höhere Grenzwerte gelten.

Neben den Grenzwerten selbst sind auch die Meßstationen Gegenstand der Kritik, da deren Vorgaben – auf Betreiben Deutschlands im Jahr 2015 – verschärft wurden. Seither würden die Meßstationen hierzulande nur noch dort installiert, wo die maximalen NOX-Werte registriert werden: direkt am Straßenrand, an vielbefahrenen Kreuzungen oder an Hauswänden. Dabei wären Abstände bis zu zehn Metern zulässig. Notwendig seien daher zusätzliche Standorte, sofern diese gegenüber den EU-Regeln verschärft seien. In dem Fall müsse ein zweiter Standort mit maximal positiver Auslegung der Richtlinie errichtet werden, um dann den Mittelwert zwischen beiden Stationen zu ermitteln. Nur dieser dürfte für Fahrverbote als Referenzgröße herangezogen werden.

Die deutschen Fließbänder stehen still

Die Politik von Fahrverboten führe zur „kalten Enteignung“ sowie zur Rufschädigung der deutschen Autoindustrie, kritisiert Spaniel. In Suttgart, wo er vor seinem Bundestagseinzug Ingenieur bei Daimler war, wären perspektivisch Hunderttausende Dieselfahrzeuge stillzulegen. Dabei würde sich bereits in wenigen Jahren die NO2-Emmission um 80 Prozent reduzieren: durch die neuen Autos nach der Norm Euro 6 d-Temp.

Dies bestätigt der Wissenschaftsjournalist Holger Douglas. Da diese neuen Modelle viel weniger Feinstaub und kaum Stickstoffoxide ausstießen und letztlich ältere Autos nach und nach ersetzten, spräche nichts für die geplanten „Hauruck-Aktionen“, die „zu gewaltigen Wertverlusten“ führen.

Außerdem, so Spaniel, kostete die technische Nachrüstung der älteren Diesel-Modelle zwischen drei und 11.000 Euro. Vor diesem Hintergrund erweise sich diese ständig wiederholte Forderung als völlig „illusorische Vorstellung“. Lediglich eine Neueinstellung der Software sei zu rechtfertigen – was BMW, VW & Co. ähnlich sehen.

Wer das alles als oppositionelle Panikmache abtut, liegt falsch. Bei den großen deutschen Autoherstellern kommt es inzwischen zu Liefer- und Produktionsstopps. Sogar auslieferungsreife Pkws müssen derzeit zwischengelagert werden – etwa auf den fertigen Parkflächen des noch immer in Bau befindlichen Hauptstadtflughafens BER. Zudem wird bei Zuliefererbetrieben immer häufiger Kurzarbeit verordnet, so ab Anfang August beim Audi-Zulieferer Scherm. Und warum das Ganze? Audi, BMW, Porsche oder VW verfügen bislang nur für ihre Volumenmodelle über eine Zulassung nach dem ab dem 1. September geltenden Abgasprüfstandard WLTP.

Der zuständige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer müsse beim Thema Fahrverbote sofort tätig werden, verlangt die AfD. Als Mitglied im Europäischen Rat für Verkehr (TTE) könne der CSU-Politiker in Brüssel vorstellig werden, um sich auf EU-Ebene für eine Änderung der NOX-Grenzwerte einzusetzen. Schließlich, so der AfD-Politiker Bernhard, seien sogar „überall, wo klinische Studien durchgeführt werden, die Grenzwerte deutlich höher“.

Eine inhalierte Zigarette produziere 50.000 Mikrogramm Stickoxide. Ein „realistischer Grenzwert“, so Bernhard und Spaniel, liege aus Sicht der AfD beim US-Grenzwert von 100 Mikrogramm pro Kubikmeter. Andernfalls wären die verkehrswirtschaftlichen Auswirkungen tatsächlich total: So belege ein Wirkungsgutachten des baden-württembergischen Verkehrsministeriums, „daß der Luftreinhalteplan nur mit der Maximallösung eines flächendeckenden Fahrverbots für Diesel funktioniert“, ein „Horrorszenario“, so Spaniel.





Kraftstoffverbrauchszyklus WLTP

Ab September gilt in der EU nicht mehr der Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ), sondern das Meßverfahren WLTP (Worldwide harmonized Light Duty Test Procedure) zur Verbrauchsermittlung von Pkws (JF 19/18). So sollen künftig realistischere Angaben in den Prospekten zu finden sein. Bislang lag der wahre Spritverbrauch teilweise um die Hälfte über den NEFZ-Werten. Besonders bei hubraumschwachen Motoren in vollausgestatteten Autos war die Abweichung enorm. Der neue Test dauert 30 Minuten, es wird bis 130 beschleunigt, die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt höher. „Durch diese Faktoren werden die im WLTP ermittelten Kraftstoffverbräuche deutlich spürbar über den bisherigen NEFZ-Werten liegen“, erläutert der Autoindustrieverband VDA. Der nominale Verbrauchswert steige so um etwa ein Fünftel. Nur bei den Plug-in-Hybriden (Benziner, die einige Kilometer elektrisch fahren können) wird weiter phantasiert: Mit vollem Akku wird ein unrealistischer Mittelwert berechnet.

WLTP-Infos der Industrieverbands VDA:  vda.de/

Europäischer Autoherstellerverband ACEA:  www.acea.be