© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

Von nun an auf Krawall gebürstet
Im August 1938 eskalierte am Chassansee im Fernen Osten ein Grenzkonflikt zwischen der UdSSR und Japan
Jürgen W. Schmidt

Mit heftigen Äußerungen der Wut machte sich Stalin Anfang August 1938 gegenüber dem sowjetischen Oberbefehlshaber im Fernen Osten und roten Bürgerkriegsgeneral, Marschall Wassili Blücher, Luft, als dieser keine Bombenangriffe seiner Luftstreitkräfte ins japanische Hinterland führen wollte: „Hat Ihnen irgendwer während des bewaffneten Konflikts mit den Japanern verboten, die koreanische Bevölkerung anzurühren? Was gehen Sie die Koreaner an, wenn unsere Leute bündelweise von den Japanern niedergemäht werden.“ 

Die Ursachen des damaligen sowjetisch-japanischen Konfliktes waren völlig unbedeutend und lagen in der Vergangenheit begründet. Die russische, später sowjetische Grenze zum japanisch besetzten Korea war seit dem Ende des Russisch-Japanischen Krieges 1905 nur auf Karten eingezeichnet, doch im Gelände nicht exakt markiert. Nahe Wladiwostok, auf zwei Anhöhen südlich des Chassansee hatten sowjetische Grenzer im Juni 1938 folglich mitten auf den Höhenkämmen eine Schützenstellung ausgehoben und davor einen breiten Drahtverhau angelegt, der sich nach Meinung der Japaner eindeutig auf ihrem Territorium befand. 

Doch japanische Reklamationen nahmen die Sowjets nicht ernst, und ein protestierender japanischer Grenzgendarm wurde im Juni 1938 kurzerhand als „Grenzverletzter“ erschossen. Als Ende Juli 1938 an der umstrittenen Grenze japanische Truppenkonzentrierungen erkannt wurden, wollte der sowjetische Oberbefehlshaber Blücher nicht unbedingt Öl ins Feuer gießen, wurde aber von Stalin brutal zur militärischen Lösung des Konflikts gedrängt, um den Japanern „eine Lehre zu erteilen“. Diese hatten nämlich am 29. Juli 1938 kurzerhand beide Höhen besetzt und blutig die sowjetischen Grenzwachen vertrieben. Ein aus der Bewegung unternommener erster Gegenangriff zweier sowjetischer Divisionen am 2. August 1938 mißlang völlig. Nunmehr wurde vom 6. bis zum 13. August 1938 seitens der Roten Armee unter Einsatz von immer mehr Truppen versucht, die umstrittenen Höhenzüge zurückzuerobern, doch blieben die Rotarmisten an deren Hängen liegen, während die Japaner bis zum Abschluß eines Waffenstillstands am 13. August 1938 die Höhenkämme behaupteten. 

Sowjetgeneral Blücher starb nach Folterungen

Die sowjetischen Gesamtverluste jener 14 Kampftage erwiesen sich mit 960 Gefallenen und 3.279 Verwundeten als unerwartet hoch, während die sich verteidigenden Japaner nur 650 Gefallene und rund 2.500 Verwundete einbüßten. Stalin diente jener Vorfall nur insofern als Lehre, als er neun Monate später beim nächsten Grenzzwischenfall am Chalchin Gol General Georgi Schukow mit umso geballterer Faust und überlegener Panzertechnik und -taktik zuschlagen ließ und damit erreichte, daß das Kaiserreich Japan ab sofort jegliche militärische Regelung von Grenzkonflikten mit der Sowjetunion vermied und zwei Jahre später gegen die USA und nicht etwa gegen den sowjetischen Fernen Osten losschlug, der damals infolge der Kämpfe vor Moskau stark von Truppen entblößt war. 

Marschall Wassili Blücher erwies sich gleich doppelt als Verlierer der Kämpfe am Chassansee. Der einstige Bürgerkriegsheld verlor innerhalb der Armee an militärischer Reputation und fiel zudem bei Stalin in Ungnade. Er wurde am 22. Oktober 1938 während eines Ferienaufenthaltes in Sotschi wegen angeblichen Landesverrats und Spionage zugunsten der Japaner verhaftet. In Moskau folterten ihn Stalins Schergen danach so grausam, daß seine Frau später angab, er habe ausgesehen „wie von einem Panzer überfahren“. Am 9. November 1938 verstarb Blücher in der Haft. 

Die Kämpfe am Chassansee waren ein damals wenig beachtetes Zeichen dafür, daß die Sowjetunion unter Josef Stalin ab sofort auf eine „friedliche“ Außenpolitik verzichtete und sich mittels ihrer hochgerüsteten Roten Armee auf die militärische Austragung von politischen Streitigkeiten einstellte.