© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/18 27. Juli / 03. August 2018

An den Grenzen der Entwicklungsmuster
Nicht der Klimawandel, sondern die Bevölkerungsexplosion verursacht die indonesischen Umweltmiseren
Christoph Keller

Wenn der deutsche Medienkonsument vom „Meeresspiegelanstieg und Überschwemmungen an der Nordküste Zentraljavas“ liest, denkt er reflexartig: Klimawandel. Um solche Kurzschlüsse zu vermeiden, sollte man mehr als die Überschrift dieses von Boris Braun, einem auf „umweltorientierte Wirtschaftsgeographie“ spezialisierten Kölner Forscher, und seinen Assistenten verfaßten Beitrag lesen. Besser noch das ganze Themenheft, das die Geographische Rundschau (4/18) den unzähligen Umweltproblemen Indonesiens widmet.

Schon die pointierten Beobachtungen von der javanischen Nordküste vermitteln plastische Eindrücke von der Komplexität der Mensch-Umwelt-Beziehungen, die sich nicht monokausal mit dem Klimawandel erklären lassen. Vielmehr handelt es sich bei den von Braun untersuchten Phänomenen um ein Zusammenspiel natürlicher und anthropogener Faktoren in „gekoppelten sozioökologischen Systemen“, die allein mit einer Kombination naturwissenschaftlich-geodätischer und humangeographischer Methoden zu erfassen sind.

Meßbares Einsinken der Landmasse

Das Deutsche Geoforschungszentrum (GFZ) hat, primär zum Zweck der Tsunamiwarnung, seit 2012 Pegelstationen in Semarang, Jakarta und Surabaya eingerichtet. Sie dienen zugleich der Langzeitmessung des Meeresspiegels der Java-See. Ihre Sensoren zeichnen jedoch auch die Wasserstände relativ zum Pegelhaus. Und um den Einfluß der Landbewegungen auf diese Wasserstandmessungen bestimmen zu können, wird mit den auf das Globale Navigationssatellitensystem ausgerichteten Antennen der Stationen die vertikale Position der Pegelgebäude registriert.

Mit einem verblüffenden Resultat. Die Pegelwerte in Semarang melden seit 2012 einen lokalen Anstieg des Meeresspiegels um zehn Zentimeter; angesichts des globalen Mittelwerts von 3,1 bis 3,5 Millimeter eine heftige Abweichung – die jedoch nicht dem Wasseranstieg, sondern ausschließlich der Bodensenkung geschuldet ist. Der Untergrund des Pegelhauses gibt jährlich um zehn Zentimeter nach. Alle verfügbaren Meßdaten belegen, daß der derzeitige Anstieg des Meeresspiegels in Semarang in Relation zum dortigen Küstenabschnitt auftritt.

Das sichtbare Steigen des Wassers beruhe auf dem Einsinken der Landmasse. Ähnlich starke Absenkungen treten an der gesamten Nordküste Zentraljavas auf, da die geologisch noch jungen Lehm-Schlick-Böden der fluvial geschaffenen Schwemmebenen auf natürliche Weise verdichtet werden. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn nicht menschliches Zutun die natürliche Landabsenkung erheblich befördern würde. Mit dieser anthropogenen Einwirkung ist ein wesentlicher Verursacher aller in diesem Rundschau-Heft vorgestellten Umweltkalamitäten Indonesiens benannt, obschon von niemandem in den Vordergrund gerückt: die Bevölkerungsexplosion Indonesiens.

Als Niederländisch-Indien 1949 auf US-Druck in die Unabhängigkeit entlassen wurde, lebten in der so entstanden Republik Indonesien weniger als 70 Millionen Menschen. Trotz jahrelangen Bürgerkrieges und der Vertreibung vieler Chinesen verdoppelte sich die Einwohnerzahl des 1,9 Millionen Quadratkilometer großen Vielvölkerstaates bis 1980.

Heute ist das südostasiatische Inselreich mit etwa 265 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste muslimisch dominierte Staat der Erde. Im globalen Ranking liegt Indonesien – hinter China, Indien und den USA – an vierter Stelle. Auf die Gesamtfläche der zirka 13.000 Inseln bezogen sind das etwa 140 Einwohner pro Quadratkilometer – was der Bevölkerungsdichte in Frankreich oder Polen entspricht.

In Deutschland sind es 230, in den ehemaligen Kolonialmächten Japan und Niederlande sogar 336 bzw. 410. Doch die Bevölkerung konzentriert sich in Ballungsräumen: Die Hälfte lebt auf der muslimischen Zentralinsel Java, deren Bevölkerungsdichte mit über 1.000 auf dem Niveau von Bangladesch liegt. Die hinduistisch dominierte kleine Touristeninsel Bali kommt auf 730 Menschen pro Quadratkilometer. Eine Entwicklung mit fatalen ökologischen Folgen.

 Die Mehrzahl der Bewohner Javas konzentriert sich an der Inselnordküste. Immer mehr Menschen, immer mehr Betriebe, treiben den Grundwasserverbrauch genauso in die Höhe wie den Flächenverbrauch. Die hohe Flächenlast verstärkt wiederum die natürliche Verdichtung des Untergrunds. Da exzessive Grundwasserentnahme Hohlräume im Untergrund entstehen läßt, hält der poröse Sedimentboden der Doppelbelastung nicht nur in der Umgebung der Pegelstationen der GFZ nicht stand.

Auftakt für Verheerungen größeren Ausmaßes

Infolge der Landabsenkungen sind in Semarang fünf Prozent des Areals der 1,5-Millionen-Stadt mit 150.000 Einwohnern von Überflutungen betroffen. Im Nordosten der Stadt, wo sich Industrie- und Arbeiterviertel, Bahnhof und Hafen befinden, läuft fast täglich das Tidehochwasser in die Straßen. Trotzdem will fast niemand staatliche Angebote zur Umsiedlung annehmen. Ebensowenig wie im Großraum Jakarta, wo sich heute 27 Millionen Menschen zusammendrängen. Für den Bonner Geographen Matthias Garschagen lassen Flächenversiegelung und Flächenverbrauch die urbane Zukunft in der indonesischen Hauptstadt noch weit bedrohter erscheinen.

Er beruft sich dabei auf Studien, die für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren, das Hochwasserrisiko werde „weiter deutlich ansteigen“. Zumal es mit den zwischen 1974 und 2010 vor allem in den nördlichen Stadtteilen gemessenen vier Meter Absenkung nicht sein Bewenden haben werde. Die bisher schlimmste Überschwemmung in der Stadtgeschichte, die 2007 56 Menschen das Leben kostete, 74.000 Wohnhäuser flutete und Schäden verursachte, die mit 560 Millionen Dollar zu Buche schlugen, wären dann erst der Auftakt für Verheerungen größeren Ausmaßes.

Um das zu verhindern, haben Regierung und Stadtverwaltung 2014 das „Great Garuda Project“ gestartet. Es soll die Bucht von Jakarta durch einen vorgelagerten Deich schützen und zugleich Neuland gewinnen. Ein Megaprojekt, das scheinbar nur Profiteure kennt. Die immensen Kosten des Küsten- und Hochwasserschutzes sollen durch den Verkauf neuer Liegenschaften aus der Landgewinnung bestritten werden. Unter anderem sollen ab 2022, wenn der Deich steht, ein Central Business District, hochwertige Wohnquartiere, ein Hochseehafen und ein neuer internationaler Flughafen entstehen.

Der massive öffentliche Widerstand, der sich dagegen wendet, ist für Garschagen verständlich. Denn das Garuda-Projekt mit seiner „enormen politischen Sprengkraft“ vertraue auf alte, bereits hinlänglich gescheiterte Konzepte, die alle erst zu der gegenwärtigen Misere geführt hätten. Es bedeute ein Mehr an Landdegradation, Landsenkung, Wasserverbrauch.

Es bekämpfe daher nur Symptome, nicht die Ursachen, deren letzte eben die Bevölkerungsexplosion ist. Offensichtlich seien in Jakarta bestehende Entwicklungsmuster und Mensch-Umwelt-Beziehungen an ihre Grenzen geraten, so daß sie nur „grundsätzlich“, nicht aber durch technokratische Fixierung auf baulichen Hochwasserschutz und schicke Wohnquartiere nebst Hightech-Betrieben neu zu gestalten seien.

Was „grundsätzlich“ heißt, verrät Garschagen nicht. Der Führungsschicht Indonesiens dürfte es wohl gleichgültig sein. Getrieben von der rasanten Bevölkerungszunahme setzt ihr ökonomischer Masterplan bis 2025 weiter rigoros auf Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

Geographische Rundschau (4/18):  www.geographischerundschau.de

Deutsches Geoforschungszentrum (GFZ):  www.gfz-potsdam.de

Indonesisches Statistikamt:  www.bps.go.id