© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

„Wir haben ein Vierteljahrhundert lang gewarnt“
Zum deutschen Nachkriegswunder gehört der Aufbau einer Infrastruktur, die weltweit bewundert wurde. Heute warnt sogar die Uno, ihr Zustand erhöhe die Katastrophengefahr hierzulande. Verkehrsexperte Alexander Eisenkopf erklärt, warum
Moritz Schwarz

Herr Professor Eisenkopf, unsere maroden Verkehrswege etc. werden inzwischen sogar im Weltrisikobericht der Uno genannt. Wie gefährlich ist unsere Infrastruktur? 

Alexander Eisenkopf: Schwarzweißmalerei hilft nicht weiter. Richtig ist, daß wir in einigen Bereichen, etwa im Verkehr, Probleme haben. Doch im internationalen Vergleich ist unsere Infrastruktur immer noch gut.

Aber der ist in dieser Hinsicht doch gar nicht entscheidend, sondern die Frage, ob ihr Zustand uns gefährdet beziehungsweise unsere Standort-Zukunft sichert.

Eisenkopf: Stimmt, und sehen wir uns etwa den Bereich Verkehr einmal näher an, dann zeigt sich, daß wir real erst jetzt – also nach über 25 Jahren – wieder auf einem Investitionsniveau sind wie vor der Wiedervereinigung. 

Was konkret bedeutet? 

Eisenkopf: Daß wir ein Vierteljahrhundert von der Substanz, sprich über unsere Verhältnisse, gelebt haben. Und dies nicht nur beim Verkehr, sondern auch in den Bereichen der kommunalen Infrastruktur, etwa Bildungseinrichtungen, Energieversorgung, Gesundheit – bis hin zur digitalen Infrastruktur haben wir zum Teil gewaltige Rückstände. 

Warum eigentlich? Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen? 

Eisenkopf: Nehmen wir die Stromnetze: Da beginnt das Problem schon damit, daß das Ziel einer stabilen und bezahlbaren Versorgung nicht vereinbar ist mit den Zielen der Energiewende, wie die Politik sie vorgibt. Denn diese verlangt den Ausbau alternativer Energien, wie Sonnen- und Windkraft. Allerdings sind noch längst nicht alle entsprechenden Anlagen an das Stromnetz angeschlossen. Oder es fehlen uns, wie Sie sicher wissen, adäquate Nord-Süd-Stromtrassen, welche die im Norden erzeugte Windenergie in den Süden des Landes transportieren. Zudem werden die Kosten, die durch den Bau dieser Trassen auf uns zukommen, immens sein, da sie wegen der Anwohner-Proteste weitgehend unter statt über der Erde verlegt werden sollen.

Seit wenigen Jahren beschäftigen sich die Medien in Deutschland sogar wieder mit dem Thema „Blackout“, wie großflächige Stromausfälle dort genannt werden. 

Eisenkopf: Ja, wir haben allein bei den erneuerbaren Energien heute eine höhere installierte Leistung als wir selbst zu Zeiten einer Spitzenlast brauchen, doch leider ist die Ausbeute ja wetterabhängig. So wissen wir an guten Tagen gar nicht wohin mit all dem Strom, doch bei einer sogenannten Dunkelflaute – also keine Sonne, kein Wind – müssen wir Strom aus dem Ausland zukaufen. Insgesamt ist daher die Zahl der Netzeingriffe in den letzten Jahren geradezu explodiert, und allein die Stabilisierung unseres Stromnetzes kostet uns inzwischen rund eine Milliarde Euro pro Jahr. Das Problem ist, daß der Netzausbau dem Ausbau der Energieerzeugung massiv hinterherhinkt. Und in der Tat ist die Möglichkeit eines Netzkollapses und von Stromausfällen überproportional gestiegen. Früher dagegen waren wir vor so etwas weitgehend sicher – da hätte uns schon regelrecht der Himmel auf den Kopf fallen müssen. 

Das Kieler Institut für Krisenforschung hält die Gefahr eines Kollapses allerdings auch heute für eher unwahrscheinlich.

Eisenkopf: Mag sein, daß das Risiko eines völligen Zusammenbruchs sehr gering ist. Für skandalös halte ich aber, wie mit einer für das Klima letztlich sogar wirkungslosen und sündhaft teuren Energiewendepolitik unsere industrielle Basis unterminiert wird.

„Seine makellosen Autobahnen und die Pünktlichkeit seiner Züge prägten Deutschlands Bild in der Welt ebenso wie Beethoven und Goethe. Nun aber beflecken zerbröselnde Brücken und Dauerstaus das deutsche Antlitz“, so die „Washington Post“. 

Eisenkopf: Für den Zustand von Straßen gibt es eine Bewertungsskala von eins bis fünf, wobei ein Wert von 3,5 und höher als kritisch gilt. Doch eben in diesem Bereich rangieren inzwischen zwanzig Prozent unserer Autobahnen und vierzig Prozent der Bundesstraßen. Das bedeutet mindestens erhebliche Beeinträchtigung, wenn nicht gar Gefährdung des Verkehrs. Man fragt sich, wieso die Politik es so weit kommen läßt?

Also ist der Zustand nicht nur bei der Stromversorgung „skandalös“, wie Sie eben bemerkten, sondern auch im Straßenbau?

Eisenkopf: Ich würde eher von einem schleichenden Prozeß der Vernachlässigung sprechen. 

Auch der kann „skandalös“ sein.

Eisenberg: Skandalisierung hilft hier nicht weiter. Skandal klingt mir zu sehr nach Bild-Zeitung. Ich würde lieber von Staatsversagen sprechen. Staats- oder Politikversagen beschreibt das Problem präziser und emotionalisiert es nicht nur – das halte ich für konstruktiver. 

Gut, aber weshalb nennen Sie die Situation in Sachen Stromversorgung „skandalös“ – aber die sich sogar skandalöser anhörende Situation in Sachen Straßeninfrastruktur nicht?

Eisenkopf: Hier gab es zuletzt immerhin ja die Tendenz, gegenzusteuern. 

Inwiefern?

Eisenkopf: Ich bin bekanntlich kein großer Freund der Politik unseres Ex-Verkehrsministers Alexander Dobrindt. Dennoch muß ich anerkennen, daß er die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur erhöht und stabilisiert hat. 

Erfreulich – aber macht das 25 Jahre Vernachlässigung wett? 

Eisenkopf: Sie müssen bitte die politische Gesamtsituation bedenken: Das Verkehrswesen hat für die Politik grundsätzlich nachrangige Bedeutung. Das zeigt sich etwa daran, daß bei einer Regierungsbildung die Bestellung des Verkehrsministers meist als letzter Posten bekanntgegeben wird, nachdem alle anderen Ministerien nach Proporz ausgekungelt wurden. Und ehrlich gesagt, oft hatten die hier bestellten Minister auch nicht wirklich Interesse an ihrem Ressort. Vor allem aber: Da in der Politik die konsumtiven Ausgaben im Mittelpunkt stehen, ist der Verkehrshaushalt – der kaum Konsumtion, sondern vor allem Investition bedeutet – eher zweitrangig. 

Diese Hintergründe mindern den Eindruck des Skandalösen der Situation allerdings kein bißchen, im Gegenteil sogar. 

Eisenkopf: Natürlich können Sie sich darüber echauffieren. Aber wenn Sie das einmal aus polit-ökonomischer Perspektive betrachten, ist die „skandalöse“ Situation eben nur folgerichtig: Politik konzentriert sich nun mal auf jene Themen, die möglichst viele Wählerstimmen generieren – und dazu gehört nicht Pflege und der Ausbau von Infrastruktur. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Was wird die bedeutende Wählergruppe der Rentner wohl eher politisch belohnen: das Versprechen einer Rentenerhöhung oder daß unser Straßennetz auch noch in dreißig Jahren tipptopp ist? 

Die Frage zu stellen heißt, sie ... 

Eisenkopf: ... zu beantworten, eben. Investitionen wirken nun mal langfristig und langfristig sind wir alle tot, wie John Maynard Keynes einmal sagte. Politiker aber wissen, daß Wähler Politik bevorzugen, die kurzfristig Wirkung zeigt. Hinzu kommt das sogenannte NIMBY-Problem: „Not In My Back Yard“, zu deutsch: „Aber nicht in meinem Hinterhof!“, also das Sankt-Florians-Prinzip. Konkret: Jeder möchte zwar überall schnell und bequem hinfahren und -fliegen können, aber keiner die dafür nötige Infrastruktur vor der Haustüre haben, beziehungsweise falls er sie dort schon hat, deren Ausbau. Und wenn man sich mal die Investitionen in den Fernstraßenausbau ansieht, fällt deutlich auf, wieviel davon in Ortsumgehungen geflossen ist. Warum? Eben, weil Politiker für diese in ihren Wahlkreisen mit politischer Zustimmung belohnt werden. 

Also nicht die Politiker, wir selbst, das Volk, sind schuld? 

Eisenkopf: Was ich hier deutlich machen will ist, daß wir es mit einer Mischung von Ursachen zu tun haben. Dazu gehören Politiker und Wähler, aber auch weitere Faktoren, wie etwa Ideologie. So ist es ja kein Geheimnis, daß die Politik in Deutschland von der grünen Idee einer Verkehrswende ganz berauscht ist. Dieser aber widerspricht ja im Grunde der Ausbau von Straßen, denn sie zielt schließlich darauf, daß es künftig weniger Verkehr, zumindest auf der Straße, gibt. Also, was macht man? Nun, das Einfachste ist, den Verkehr zu torpedieren, indem man den Straßenausbau vernachlässigt. Vergleichen wir zum Beispiel mal Bayern und NRW: Da fällt auf, daß die Straßenbauverwaltung in Bayern zuverlässig und effektiv ist. Deshalb fließen in Sachen Verkehr auch überproportional viel Bundesmittel nach München. Das liegt nämlich nicht etwa daran, wie manche meinen, daß die CSU den Verkehrsminister gestellt hat, sondern daran, daß die bayerische Straßenverwaltung ambitioniert ist und bei Bedarf viele baureife Projekte vorlegen kann. In NRW dagegen wurde in dieser Hinsicht lange Zeit eher „Dienst nach Vorschrift“ gemacht, weil dort sowohl in Politik wie Verwaltung Verkehr eher kritisch und nicht wie in Bayern als Ausdruck von Fortschritt gesehen wurde. 

Ist das eine Tatsache oder eine Vermutung?

Eisenkopf: Ich kann das natürlich nicht wissenschaftlich beweisen, aber es ist meine Schlußfolgerung nach Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema. Wobei man sagen muß, daß sich in NRW unter SPD-Verkehrsminister Michael Groschek etwas bewegt hat. 

Wenn alle schuld sind, ist keiner schuld. Demokratie aber lebt von der Abwahl „schlechter“ Politik. Folglich: Finden wir hier keinen Schuldigen, kann der Leser und Wähler nicht politisch handeln – und unsere Straßen zerfallen weiter. 

Eisenkopf: Natürlich kann man im Sinne politischer Verantwortung sagen, daß die Politik die Schuld an der Situation trägt. Denn sie hat als Regierung die Verantwortung für die Verkehrsinfrastruktur übernommen. 

Wir aber wählen sie dennoch nicht ab. Gilt also die alte Weisheit: In der Demokratie hat jedes Volk die Regierung – beziehungsweise Infrastruktur –, die es verdient? 

Eisenkopf: Die Debatte um den Verfall der Infrastruktur führen wir nun schon seit einem Vierteljahrhundert. Bereits 1993 erschien ein Buch mit dem Titel „Strategien gegen den Verkehrsinfarkt“ – schon damals sprach man also von „Infarkt“! Gut, der hat gleichwohl nicht stattgefunden, denn irgendwie rollt unser Verkehr ja noch; man hat eben immer wieder Mittel und Wege gefunden, sich durchzuwursteln. Aber das Thema ist der Öffentlichkeit inzwischen bestens bekannt. Experten, Journalisten, Verbandsvertreter haben immer wieder gewarnt. Bereits im Jahre 2000 wurde eine Expertenkommission Verkehrsinfrastrukturfinanzierung, die sogenannte Pällmann-Kommission, eingerichtet. Doch was war die Folge? Flickwerk, Aktionismus und sogenannte „Sonderprogramme“ – wenn ich das schon höre! Nur für grundlegende Lösungen kam trotz allem von der Politik nicht das nötige Geld, von den Wählern nicht der nötige Druck.

Aber warum hat die Politik, die unsere einst international bewunderte Infrastruktur geschaffen hat, also Interesse daran hatte, das Interesse an ihr verloren? Etwas muß sich da doch verändert haben?

Eisenkopf: In den sechziger Jahren und bis zur ersten Ölkrise 1973 hatte der Aufbau der Verkehrsinfrastruktur erste politische Priorität. Man war sehr stolz auf die erzielten Erfolge. Später haben sich die Gewichte verschoben und der Ausbau hielt mit dem enormen Verkehrswachstum nicht mehr Schritt. Das betraf bis Ende der achtziger Jahre vor allem die private Motorisierung. Mit der Realisierung des EU-Binnenmarktes und seiner Warenverkehrsfreiheit sowie der Globalisierungswelle in den 2000er Jahren verstärkt auch den Lkw-Verkehr. Da Pkw die Straßen kaum, Lkw dagegen sehr schädigen, wären massive Investitionen in die Erhaltung und den Ausbau der Straßeninfrastruktur erforderlich gewesen. Kurzum: Unser Verkehrswachstum hat unseren Straßenausbau bei weitem übertroffen – das ist die Formel, auf die Sie das Problem bringen können.

Manche nennen auch die Deutsche Einheit als eine Ursache.

Eisenkopf: Sicher, dazu gehört auch die Fokussierung auf den notwendigen Straßenausbau in den neuen Bundesländern ab 1990. Der natürlich zu Lasten der alten Länder ging, wo sich aber vor allem die Wirtschaftszentren Deutschlands befinden, mit der entsprechend hohen Belastung der Straßen, für die nun Geld fehlte.

In den letzten 25 Jahren haben Union, SPD, FDP und Grüne regiert. Der demokratische Bürger müßte sie nun mit Abwahl bestrafen und durch die Opposition ersetzen. Doch was taugen deren Konzepte, also die von AfD und der Linken?

Eisenkopf: Die mögen ja ganz wunderbare Vorschläge haben – wie auch die Wahlprogramme der zuerst genannten vier. Ich bezweifle, ob sich in einer anderen politischen Konstellation wirklich etwas zum Besseren ändern würde.

Also was dann? Nichts tun und zusehen, wie unser Land seine, neben Bildung und Know-how, wohl wichtigste Ressource im internationalen Wettbewerb verspielt? 

Eisenkopf: Zu meinem Metier gehört das Erarbeiten von Lösungsvorschlägen, wie dies verhindert werden kann – und an denen mangelt es nicht. Wir haben also kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem  – und da stoße ich als Wissenschaftler an meine Grenzen.






Prof. Dr. Alexander Eisenkopf, der Ökonom leitet den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen und ist Mitglied im Wissenschaftsbeirat des Bundesverkehrsministeriums. Geboren 1962 in Beselich bei Limburg, lehrte er zuvor in Gießen und Wien. 

Foto: Die infolge von Vernachlässigung durch „Betonkrebs“ zerfressene und abgetragene A9 bei Dessau: „Von der Politik kommt nicht das nötige Geld, vom Wähler nicht der nötige Druck“

 

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