© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Die soziale Kluft wächst
Soziale Durchmischung in deutschen Städten: Vor allem in Mitteldeutschland leben Arm und Reich immer seltener Tür an Tür
Christian Schreiber

Arme wohnen neben Armen, die Reichen bleiben lieber unter sich: Die soziale Spaltung in Deutschland nimmt derzeit ungeahnte Ausmaße an. Statt einer sozial gemischten Stadt bilden sich zunehmend Ghettos – die Folgen könnten fatal sein, warnt auch eine neue Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), in der die Entwicklung der sozialräumlichen Segregation in 74 Städten von 2005 bis 2014 untersucht wurde. Sie ist die bislang umfangreichste Studie, die mit amtlichen Daten die ungleiche räumliche Verteilung sozialer Gruppen untersucht. 

„Die Ergebnisse deuten darauf hin, daß in vielen deutschen Städten die Idee einer sozial gemischten Stadtgesellschaft nicht mehr der Wirklichkeit entspricht“, heißt es in der Analyse. „Wir haben herausgefunden, daß die soziale Segregation zwischen 2004 und 2014 in gut 80 Prozent der Städte angestiegen ist“, sagt WZB-Forscher Marcel Helbig. Die Städte würden sich immer mehr spalten. Das könnte der Gesellschaft schaden, befürchten die Autoren, weil so das Verständnis füreinander verschwinden würde.

Schon bald drohen amerikanische Verhältnisse

Die räumliche Ballung von Menschen, die Sozialhilfe beziehen, habe massiv zugenommen – am stärksten dort, wo viele Familien mit kleinen Kindern (unter 6 Jahren) und viele arme Menschen leben. Den höchsten Anstieg verzeichnen demnach mitteldeutsche Städte wie Rostock, Schwerin, Potsdam, Erfurt, Halle und Weimar. Zudem würde die sozialräumliche Spaltung in Städten dort schneller voranschreiten, wo eine bestimmte Schwelle der Armutssegregation bereits überschritten sei.

Mit dem sogenannten Segregationsindex wird beispielsweise berechnet, wie viele der Hartz-IV-Bezieher in einen anderen Stadtteil umziehen müßten, um gleichmäßig verteilt in einer Stadt zu leben. In einer ganzen Reihe von Städten würde dies zwischen 35 und 40 Prozent der Leistungsempfänger betreffen. „Dieses Niveau kennen wir bisher nur von amerikanischen Städten. Und nirgendwo ist die soziale Spaltung so schnell und so massiv gestiegen“ wie in den mitteldeutschen Städten, erklärt Helbig. Die Dynamik der Veränderung sei in den neuen Bundesländern „historisch beispiellos“. Dies habe auch gesellschaftliche Folgen. „Wer die Probleme des Nachbarn mit wenig Geld nicht mehr hautnah erlebt, kann ein Stück Lebenswirklichkeit leichter ausblenden. Und wer im Armen-Ghetto lebt, wird demnach weniger Aufstiegswillen entwickeln“, heißt es in der Studie. 

Auffallend sei, daß Magdeburg und Dresden im Unterschied zu den anderen mitteldeutschen Städten eine relativ geringe soziale Segregation aufweisen würden. „Wir argumentieren, daß der Grund für die Sonderstellung der beiden Städte ihre großflächige Zerstörung während des Zweiten Weltkrieges ist. Dadurch beschritten Dresden und Magdeburg andere städtebauliche Pfade als viele andere Städte in der ehemaligen DDR“, schreiben die Autoren. In Rostock, Erfurt, Potsdam, Weimar oder Halle habe sich durch die sozialistischen Plattenbauten am Rande der Städte und die nach der Wende „blühenden Landschaften“ in Form von Innenstadtsanierung und Suburbanisierung eine enorme architektonische Spannbreite ergeben. „Entsprechend groß ist die soziale Schere.“

In den Plattenbaugebieten leben vergleichsweise viele Sozialhilfebezieher. Arme Familien mit Kindern sind demnach besonders betroffen. In 36 Städten gebe es inzwischen Quartiere, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder von Sozialleistungen leben. „Diese Entwicklung kann sich negativ auf die Lebenschancen armer Kinder auswirken. Die Forscher haben zudem herausgefunden, daß der Anteil von Sozialwohnungen die räumliche Ungleichheit innerhalb einer Stadt verstärkt: „Sozialwohnungen sind in Gebieten zu finden, in denen ohnehin die Armen wohnen. Das Ideal einer sozial gemischten Stadt ist schon lange dem Ziel gewichen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.“ 2015 habe sich der Bundestag gezwungen gesehen, eine Mietpreisbremse einzuführen, um dem Anstieg der Mieten etwas entgegenzusetzen.

Gesteigerte Nachfrage von Wohnungen durch Asylanten

Mit der Asylkrise habe die Debatte um eine Spaltung der Städte noch einmal an Dynamik gewonnen und die Aufmerksamkeit zudem auf die ethnische Dimension des Problems gelenkt. Denn bestimmte Ausländergruppen leben seit Jahrzehnten in Deutschland stark abgeschottet. Die stärkste Segregation einer Ausländergruppe findet sich bei Türken – für die Wissenschaftler ist ihr „Ausmaß der Segregation“ ein eindeutiges „Zeichen ihrer mangelnden Integration“. Hinzu kommen nun die Asylbewerber. „Nach der Frage, wie man die Flüchtlinge kurzfristig unterbringt, wird man sich darüber verständigen müssen, wo die vielen Neuankömmlinge in den Städten ihren Platz finden sollen“, schreiben die Autoren. Dies könne zu einer weiteren Spaltung der Städte führen. 

Die sogenannte „residenzielle Segregation“ nach sozioökonomischen Merkmalen sei dabei kein neues Phänomen, sondern schon immer mit der Existenz von Städten verknüpft. Im Zuge der Industrialisierung habe sich in den wachsenden Städten eine deutliche räumliche Trennung herausgebildet. „Das Bürgertum ließ sich in repräsentativen Wohnvierteln oder im Umland nieder, während die Arbeiterklasse unter miserablen Bedingungen in Vierteln nahe den Fabriken wohnte.“ Den sozialen Mißständen versuchte man später durch Sozialreformen zu begegnen. Zum Rückgang der Segregation trug demnach besonders der soziale Wohnungsbau bei. Er sollte ausdrücklich breiteren Bevölkerungsschichten offenstehen. Nach den beiden Weltkriegen sei die Schere am dichtesten beieinander gewesen. Das Wirtschaftswunder habe als Kitt der Gesellschaft gewirkt. Mit der Massenarbeitslosigkeit in den achtziger Jahren und der deutschen Einheit habe eine schleichende Entwicklung eingesetzt, die bis heute anhalte. 

Diese Entwicklung könne sich negativ auf die Lebenschancen armer Kinder auswirken. „Aus der Forschung wissen wir, daß die Nachbarschaft auch den Bildungserfolg beeinflußt“, so die Studie. „In Berlin leben etwa 25 Prozent der armen Kinder in Gebieten, in denen sich Armut massiv ballt. Umgekehrt gebe es Viertel, in denen Kinder gar keine armen Menschen mehr kennen. 

Diese soziale Spaltung werde durch Institutionen wie Privatschulen noch zementiert, erklären die Forscher. Denn von denen gibt es immer mehr. In den vergangenen 20 Jahren habe sich die Zahl der Privatschüler um 30 Prozent erhöht, die Anzahl der privaten Grundschulen sogar vervierfacht. „Das ist ein ernsthafter Hinweis darauf, daß Privatschulen genutzt werden, um sich bestimmten sozialen Gruppen zu entziehen.“ Als langfristigen Ausweg für die Kommunen empfehlen die Autoren, Neubauten in besseren Wohnlagen immer mit strikten Auflagen für einen Anteil von Sozialwohnungen zu versehen. Das Beispiel München zeige, daß trotzdem gebaut werde.

Die Studie zeigt einige Problemfelder auf, läßt aber auch Fragen offen. Die Forscher gestehen dies unumwunden ein. Dies betreffe vor allem die soziale Segregation von Kindern: „Die wichtigste Frage lautet: Warum beobachten wir vor allem in den westdeutschen Großstädten und Berlin eine ähnliche Entwicklung wie in den USA, wo der Anstieg der sozialen Segregation eher auf Familien mit Kindern zurückgeführt werden kann? In den ostdeutschen Städten ist das nicht der Fall.“

Eine spannende Forschungsfrage ziele künftig auf den kurz-, mittel- und langfristigen Einfluß der Einwanderung seit dem Jahr 2015 auf die ethnische und soziale Segregation in deutschen Städten ab. Zumindest kurzfristig sei wegen der zentralen Unterbringung ein Anstieg der ethnischen Segregation zu erwarten. Wie die Situation mittel- und langfristig aussehe, müßten zukünftige Studien klären.

Syrer sind im Osten häufig Hauptausländergruppe

Eine besondere Herausforderung werde auf die ostdeutschen Städte zukommen. Etwa in der Hälfte aller mitteldeutschen Kreise sind Syrer mittlerweile die Hauptausländergruppe: „Die räumliche Integration dieser ethnischen Minderheit wird die Werte der ethnischen Segregation stärker beeinflussen als in Westdeutschland.“

Da nicht vorgesehen sei, daß die Asylbewerber „dauerhaft in Sammelunterkünften leben, ist ein Einfluß auf die Nachfrage nach Wohnungen im günstigen Preissegment zu erwarten“, schreiben die Autoren. Dies sei nicht nur der Fall, wenn anerkannte Asylbewerber vermehrt Transferleistungen beziehen würden. Auch erwerbstätige Migranten verfügten durchschnittlich über geringe finanzielle Ressourcen: „Wo Städte mit einer hohen Armutssegregation und vielen Flüchtlingen konfrontiert sind, könnte daher auch die soziale Segregation zunehmen.“





Segregationsindex

Der Segregationsindex (SI) bestimmt die räumliche Ungleichverteilung einer Bevölkerungsgruppe im Vergleich zu allen anderen Gruppen derselben sozio-ökonomischen Kategorie bezogen auf eine bestimmte Raumeinheit. Je höher der Indexwert, desto größer die relative Ungleichverteilung im Raum. Bei einem SI von 0 ist die betrachtete Gruppe gleich verteilt wie alle anderen Gruppen derselben Kategorie, bei einem SI von 100 ist die betrachtete Gruppe gegenüber allen anderen Gruppen maximal ungleich verteilt.