© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Parlamentarische Demokratien im Vergleich
Die Gewalten teilen
Charles B. Blankart

Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Jean Bodin in Frankreich und Thomas Hobbes in England sprachen sich für absolutistische Regierungen aus. Nur eine absolutistische Regierung sei in der Lage, die damals herrschenden Bürgerkriege und das gegenseitige Morden, wie jenes in der Bartholomäusnacht 1572, zu beenden und Ruhe und Ordnung herzustellen.

Zweihundert Jahre später untersuchte Charles de Montesquieu die Bedingungen, die nicht nur politische Stabilität, sondern auch Freiheit gewährleisten. Er schrieb: Freiheit erfordert, daß die Gesetzgebung, die ausübende und die richterliche Gewalt voneinander getrennt sind und keine dieser Gewalten in die Belange der anderen Gewalten eingreift. Montesquieu überging die Frage, wie die drei Gewalten zu einer gemeinsamen Politik finden. Im Jahr 1951 hat der Ökonom Kenneth Arrow gezeigt, daß es kein politisches System gibt, das auf individuellen Präferenzen beruht und zugleich zu eindeutigen Ergebnissen führt. Abstriche hinsichtlich der Präfenzen oder der Eindeutigkeit seien unvermeidlich. Eine Politik könne diktatorisch und damit eindeutig sein oder sie sei individualistisch und damit ein Opfer wechselnder Mehrheiten.

Insbesondere in den USA fand die Theorie von Montesquieu eine große Anhängerschaft. Doch es blieb die Frage offen, was geschehen sollte, wenn die drei Gewalten sich hinsichtlich der gemeinsamen Politik nicht einig werden. Es müssen Instabilität hingenommen oder diktatorische Elemente eingebaut werden.

Der Gründungsvater der USA, James Madison, beschritt beide Wege. Wenn sich Präsident und Kongreß nicht einig werden, so kann der Präsident gegenüber einem Beschluß des Kongresses das Veto einlegen. Der Kongreß wiederum kann das Veto mit zwei Dritteln seiner Mitglieder nach Artikel 1 Abschnitt 7 der US-Bundesverfassung zurückweisen. Madison hatte mit dem Veto ein diktatorisches Element zugelassen und kam dadurch zu einem stabilen Ergebnis. Umgekehrt beinhaltet die Rückweisung des Vetos durch den Kongreß ein pluralistisches Element, das die Stabilität aufhebt. Ein Dissens kann bestehen bleiben, weil Präsident und Kongreß in getrennten Wahlen gewählt werden, beide auf gleicher Augenhöhe stehen und keiner den anderen aus dem Amt drängen kann.

In den Demokratien Europas ist ein Verfahren wie in den USA nicht möglich. Denn in praktisch allen Staaten Europas wählen die Wähler erst die Abgeordneten des Parlaments. Dann wählen die Abgeordneten die Regierung. Damit ist die Regierung dem Parlament untergeordnet. Sie kann gegenüber dem Parlament nicht das Veto einlegen. Das Parlament ist der Prinzipal, die Regierung dessen Agent. In der Literatur wird meist unterstellt, daß die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion die Regierung bilden und daß die Mehrheitsfraktion selbstverständlich immer für die Regierung stimmt. Das ist oft der Fall, trifft aber nicht zwingend zu. Die Abgeordneten der Parlamentsmehrheit können auch gegen die Regierung stimmen.

Für einen Abgeordneten gibt es zwei Wege: Er kann versuchen, genügend Gesinnungsgenossen zu finden, um die amtierende Regierung zu stürzen, oder er kann sich durch Wohlverhalten die Gunst der Partei erwerben, die ihn voranbringt.

Die Regierung schwebt in steter Gefahr, ihre Mehrheit zu verlieren und gestürzt zu werden. Es genügt, daß ein beliebiger Abgeordneter der Regierungspartei einige Stimmen abspenstig macht, wodurch diese die Mehrheit verliert und aus dem Amt gewählt wird. Eine parlamentarische Demokratie neigt daher zur Instabilität.

Ein erstes Beispiel einer solchen instabilen Regierung stellt die Weimarer Republik von 1919 bis 1932 dar. Im November 1918 wurde der Kaiser, der bisher den Reichskanzler ernannt hatte, abgesetzt und durch eine vom Parlament gewählte Regierung ersetzt. Damit war die Regierung vom Parlament abhängig und permanent instabil. Es genügten oft wenige Stimmen, um die Regierung zu stürzen. Regierungen verloren immer wieder die Mehrheit im Parlament. In den 13 Jahren der Weimarer Republik, von 1919 bis 1932, hatte Deutschland 22 Regierungen – also eine neue Regierung jedes halbe Jahr.

In die gleiche Falle der Regierungsinstabilität gerieten auch die Franzosen, als sie nach der deutschen Besetzung im Jahr 1945 eine parlamentarische Demokratie errichteten. Frankreich hatte in den 12 Jahren seiner Vierten Republik 22 Regierungen, also ebenfalls jedes halbe Jahr eine neue Regierung.

Aus den fortlaufenden Regierungswechseln in der Vierten Republik zogen die Franzosen die Konsequenzen: In der Fünften Republik seit 1958 wird der Staatspräsident nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt. Das Parlament kann nicht mehr sich selbst auflösen und Neuwahlen ansetzen. Alles in allem wurden die Kompetenzen des Parlaments durch die neue Verfassung soweit beschnitten (und gleichzeitig die Macht des Staatspräsidenten vergrößert), daß das Parlament nicht mehr die Regierung stürzen konnte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Deutschen in den Westzonen ein stabiles Regierungssystem ohne fortlaufende Regierungswechsel errichten. Die Kompetenzen des Parlaments wie in Frankreich zusammenzustreichen, schien ihnen angesichts der Präsenz alliierter Truppen in Deutschland nicht ratsam. Sie wollten die Präferenzen der Abgeordneten an die der Regierung binden und damit deren Stabilität sicherstellen. Besser als die Untreue zu verbieten schien ihnen, regierungstreues Verhalten zu belohnen. Es galt, den Zielen der Abgeordneten entgegenzukommen. Jeder Abgeordnete möchte gerne aufsteigen und, wenn möglich, Minister oder sogar Bundeskanzler werden.

Zu diesem Ziel gibt es zwei Wege. Ein Abgeordneter kann versuchen, genügend Gesinnungsgenossen zu finden, um die amtierende Regierung zu stürzen, oder er kann sich durch Wohlverhalten die Gunst der Partei erwerben, die ihn voranbringt. Im Frankreich der Vierten Republik waren die Abgeordneten kämpferisch. Sie erhofften, durch den Sturz der Regierung das Amt des Premierministers zu erlangen. So kam es zu den häufigen Regierungswechseln.

In Deutschland setzte sich das Wohlverhalten der Abgeordneten durch. Ein Abgeordneter kann sich als treuer Parteisoldat verhalten, der stets die Vorlagen seiner Regierung unterstützt, auf diesem Wege allmählich Sympathie seiner Partei gewinnen, zum Liebling der Partei werden und damit in den Rang der Papapiles für ein Ministeramt oder gar für das Bundeskanzleramt aufsteigen. Die Partei zeigt sich auch nicht knauserig. Sie belohnt treue Parteisoldaten mit Bonusleistungen.

Bonusleistungen sind nicht mit Diäten zu verwechseln. Diäten sind im Gesetz genau geregelt. Diäten sind nicht dazu da, um Abgeordnete zu kaufen, denn Abgeordnete sollen nach dem Willen des Grundgesetzes ausschließlich nach ihrem Gewissen stimmen. Doch für die Partei sind reine Gewissensentscheidungen zuwenig verläßlich. Mit Gewissensentscheidungen allein läßt sich eine stabile Regierung nicht errichten. Hierfür braucht es die Loyalität der Abgeordneten zur Partei.

In Deutschland hat sich hierfür das Treuesystem herausgebildet. Vorlagen der Regierung werden von den Abgeordneten ohne nähere Prüfung einfach durchgewinkt, was von der Regierung belohnt wird. Das Treuesystem ist in hohem Maße intransparent, weil diese Leistungen nur wenig dokumentiert werden. Sie erscheinen in der Regel nur in der Anlage zum Haushaltsplan und nicht im Haushaltgesetz. Offiziell wird die Existenz von Treueleistungen stets bestritten.

Das deutsche System erleichtert den Konsens. Strittige Fragen werden im Parlament durchgewinkt. Aber das Durchwinksystem verstößt gegen die Kontrollaufgabe, die das Parlament nach Montesquieus Gewaltenteilungslehre ausüben sollte.

Ein indirekter Nachweis für das Durchwinksystem liegt in der den Abgeordneten vereinzelt zugestandenen Stimmfreigabe. Stimmfreigabe hätte keinen Sinn, wenn die Abgeordneten, wie es im Grundgesetz steht, stets nach ihrem Gewissen stimmen würden. Das bedeutet im Umkehrschluß: Die Abgeordneten werden in der Regel dazu angehalten, mit der Fraktion zu stimmen. In besonders bezeichneten Fällen wird Stimmfreiheit gewährt, und die Abgeordneten dürfen nach ihrem Gewissen stimmen.

Die Abgeordneten stimmen also in der Regel nach der Parteiparole. Im Normalfall läßt sich das auch kontrollieren, weil offen abgestimmt wird und Abweichler daher entdeckt werden. In kritischen Fällen wird das sogenannte Hammelsprung-Verfahren angewandt. Zunächst müssen alle Abgeordneten den Raum verlassen. Dann treten die Ja- beziehungsweise Nein-Stimmenden durch getrennte Türen wieder in den Saal ein und geben sichtbar ihre Ja- oder Nein-Stimme ab.

Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun aus dem zuvor Beschriebenen ziehen? Das deutsche System erleichtert den Konsens. Strittige Fragen werden durchgewinkt. Aber das Durchwinksystem verstößt gegen die Kontrollaufgabe, die das Parlament nach Montesquieus Gewaltenteilungslehre ausüben sollte. Montesquieu wollte ein Drei-Gewalten-System von Parlament, Regierung und Justiz, von denen jede Gewalt die andere kontrolliert. Aus dem Durchwinksystem wird in Deutschland ein Zwei-Gewalten-System von Parlament und Regierung einerseits und Justiz anderseits.

Würde statt dessen dem US-amerikanischen Modell gefolgt, so würden Regierung und Kongreß selbst eine echte Gewaltenteilung bilden. Regierung und Kongreß könnten sich durch ihr gegenseitiges Veto in Schranken halten. Regierungen bräuchten nicht erst gestürzt zu werden, um eine Politikänderung zu bewirken. Das Veto würde genügen.

Ein Veto-System wäre noch kein Präsidialsystem, das von vielen abgelehnt wird. Beim Veto-System wäre es nur erforderlich, daß die Regierung und das Parlament vom Volk gewählt werden. Regierung und Parlament stünden dann auf gleicher Augenhöhe. Die Regierung könnte gegenüber dem Parlament ihr Veto aussprechen, und umgekehrt könnte das Parlament das Veto der Regierung zurückweisen. Dieses System hat sich in den USA seit über 200 Jahren bewährt, ohne daß es je zu einer Regierungskrise gekommen wäre. Deutschland würde also ein geringes Risiko eingehen, wenn es das Veto-System der USA annähme.

Würde die Regierung vom Volk gewählt, so wäre es überdies nicht erforderlich, nach den Wahlen in langwierige Koalitionsverhandlungen einzutreten. Die vom Volk gewählte Regierung könnte ihr Amt sofort antreten und den Bundeskanzler wählen. Freilich müßte der Bundeskanzler jeweils ins Parlament gehen und dort seine Gesetzesvorhaben vertreten. Er könnte diese Aufgabe nicht einfach an seine parlamentarischen Staatssekretäre delegieren. Auch das wäre kein Nachteil. 






Prof. Dr. Charles B. Blankart, Jahrgang 1942, ist Seniorprofessor für Öffentliche Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin, Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern sowie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Er ist in verschiedenen libertären Netzwerken aktiv, so in der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Mont Pelerin Society, dem Institut für Unternehmerische Freiheit sowie bei Open Europe Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Volksabstimmungen („Gute Gründe dafür“, JF 3/14).

Foto: Vor dem Hammelsprung – Bundestagsabgeordnete stehen im November 2017 vor dem Plenarsaal, um für das Abstimmungsverfahren durch eine bestimmte Tür wieder einzutreten: Das deutsche System begünstigt den Konsens. Seiner Kontrollfunktion gegenüber der Regierung kommt das Parlament nicht nach