© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/18 / 10. August 2018

Kritik an den „sozialen Innovationen“ der Verhaltensökonomie
Systembedingte Armut
(dg)

Der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Guilherme Lichand erhielt 2014 vom Bostoner MIT einen leicht scherzhaft klingenden Ritterschlag: er sei der „wichtigste soziale Innovator Brasiliens unter 35“. Seine verhaltensökonomische „Innovation“ bestand darin, im Wege des Nudging, des „Anstupsens“, Eltern aus der Unterschicht per SMS regelmäßig daran zu erinnern, wie wichtig für ihre Kinder der Schulerfolg sei. Das Resultat dieser „Aufmerksamkeitssteuerung“ im Feldversuch schätzt Lichand als „phänomenal“ ein, denn die danach von ihren Eltern überwachten und animierten Kinder aus prekären Milieus hätten den Schulstoff drei Monate schneller bewältigt als Vergleichsgruppen. Ob Lichand, der seinen Erfolg gerade an der Elfenbeinküste wiederholen möchte, damit wirklich Menschen aus der „Armutsfalle“ befreit, bezweifelt sein Züricher Kollege, der Wirtschaftsgeograph Christian Berndt. Die 2017 mit Nobelpreis geehrte Verhaltensökonomie versuche nur, die vom „kapitalistischen System verursachten Probleme mit Hilfe des Systems zu lösen“ (UHZmagazin, 2-2018). Doch „wenn wir Menschen dazu bringen, in einem defizitären System besser zu funktionieren, stärken wir das System, anstatt es zu verändern“. Das Armutsproblem löse nur, wer die „tiefsitzenden sozialen Verwerfungen des globalen Kapitalismus“ beseitige. 


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