© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Dorn im Auge
Christian Dorn

Ich bin eine Nutte!“ Das freimütige Bekenntnis meines Gastronomen im Westsektor irritiert mich, so daß er ergänzt: „Der Staat ist mein Zuhälter.“ So klar sind die Verhältnisse nicht immer. Entsprechend startet „Hedwig and the Angry Inch“, laut Rolling Stone „das beste Rock-Musical aller Zeiten“, anzüglich mit den ersten Takten der DDR-Hymne: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt ...“ – geht es hier doch um transsexuelle Fluchten, weshalb auf der Studiobühne im Admiralspalast der „Diener zweier Herren“ gar keine Chance hätte. Oder gerade doch? Handelt die krude Story doch von Hänsel Schmidt in Ost-Berlin, der vom GI Luther geheiratet wird, um – nach einer mißglückten Geschlechts-OP – die DDR verlassen zu können. Das Problem: Hedwig, so Hänsels neuer Name, besitzt fortan einen toten „Angry Inch“, weder Penis noch Vagina. Das ist der Preis für den Duft des Westens (McDonalds), eingetauscht gegen „immer nur Grilletta und Ketwurst.“ Auch die Dialoge („Jesus ist für unsere Sünden gestorben“ – „Hitler auch“) überzeugen kaum. Lebensnaher wirkt da eines der drei Mädels nachts in der U-Bahn: „Ich hab dem Typen geantwortet. Der hat geschrieben, daß er nächste Woche vielleicht in der Türkei ist. Ich: Wie ‘vielleicht’? Er: Na ja, vielleicht.“ Um gegenüber ihrer Freundin nahtlos fortzufahren: „Am besten ist es, wenn du den Body unten offen läßt.“


Unschlagbar authentisch wirken dagegen die Filme von Klaus Lemke (Jahrgang 1940), Veteran des deutschen „Jungfilms“ und der Filmemacher seiner Generation, der auch heute unter jungen Leuten die größte Anhängerschar findet. Lebt seine Arbeit doch von den improvisierten Dialogen der Protagonisten, die gerade keine professionellen Schauspieler sind. Fern vom Gender-Geländer firmieren hier die Frauen als „Mädels“ und die Männer nur als „Jungs“. Diese Reduktion auf das Wesentliche sorgt dafür, daß Lemkes Filme „dichter, vitaler, lustiger und selbstverständlicher“ am Zeitgefühl liegen, so die Süddeutsche Zeitung 1977. Zu erleben ist dies noch im Berliner Zeughauskino (freier Eintritt) bei „Amore“ (21.09., 21 Uhr; 23.09., 18 Uhr). Bei der Erstausstrahlung 1978 hatte der Film mit Cleo Kretschmer, die für ihre schauspielerische Leistung hier den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste erhielt, eine Einschaltquote von 52 Prozent erzielt. Für Lemkes neues Werk „Bad Girl Avenue“ ist das aussichtslos: Das ZDF zeigt es am 28. August um Mitternacht, als Online-Video jedoch schon ab 26. August (siehe Trailer via Youtube).