© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/18 / 17. August 2018

Knapp daneben
Achtung: Gefährliche Literatur
Karl Heinzen

Wer sich mit klassischer Literatur beschäftigt, muß auf das Schlimmste gefaßt sein. In Shakespeares Dramen fließt das Blut in Strömen. Vladimir Nabokov ließ seinen schmuddeligen Sexphantasien freien Lauf. Mark Twain schilderte naiven Alltagsrassismus ohne glaubwürdige Distanzierung. Charles Dickens suhlte sich im sozialen Elend. Gottfried Benn war bemüht, mit lyrischen Karzinomen Hoffnungslosigkeit zu säen. Lawrence Sterne ergötzte sich am Inzest. Dostojewski konfrontierte seine Leser mit gruseligen Einblicken in psychische Abgründe.

Wir modernen Menschen, die endlich normal empfinden und voller Sensibilität sind, werden durch solch einen Schund leicht aus der Fassung gebracht. Wir können leider nicht ungeschrieben machen, was früher geschrieben wurde. Wir können uns aber verweigern, all diese Zeugnisse von Grausamkeit, Menschenverachtung, Rassismus und Sexismus zu lesen.

„Trigger Warnings“ lassen die jungen Menschen das Bedrohliche der Texte noch intensiver empfinden

Wenn man sie dann doch lesen muß, vielleicht aus professionellem Interesse, weil man Irrtumswissenschaften oder etwas Ähnliches studiert, dann hat man einen Anspruch darauf, geschützt zu werden. An manchen angelsächsischen Universitäten weisen daher sogenannte „Trigger Warnings“ die emotional leicht aufzuwühlenden Student*innen auf gefährliche Inhalte ihrer Lektüren hin, um sie vor Traumatisierung zu bewahren. Ist dies aber wirklich hilfreich? Nein, meint eine Studie der Harvard University, genau das Gegenteil wird erreicht. Die „Trigger Warnings“ versetzen die jungen Menschen in einen Spannungszustand, in dem sie das Bedrohliche der Texte noch intensiver empfinden. 

Wer auf sein seelisches Gleichgewicht und seine moralische Integrität bedacht ist, sollte daher strikt alles meiden, was sich als Gefahr entpuppen könnte. Dies ist aber nicht bloß für Literaturwissenschaftler ratsam. Historiker, die an armseligen Vergangenheiten, Mediziner, die an körperlichen Defekten, Ingenieure, die an den Grenzen der Physik verzweifeln, all das muß es nicht geben. Mit der Welt, wie sie war und ist, werden wir nie ins reine kommen. Im Einklang können wir nur mit der Welt leben, wie sie sein sollte.