© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

„Du darfst niemals aufgeben!“
Von der Stasi entführt: Martin Hoffmann war einer von zahllosen Deutschen, die nach dem Krieg im Gulag verschwanden
Moritz Schwarz

Herr Dr. Hoffmann, wie haben Sie Workuta überlebt?

Martin Hoffmann: Das frage ich mich manchmal auch. Wichtig ist, du darfst niemals aufgeben! 

Wie macht man das – verurteilt zu 25 Jahren Zwangsarbeit im Gulag?

Hoffmann: Eine gute Frage, denn 25 Jahre – das ist quasi lebenslänglich. Bevor wir nach Rußland deportiert wurden, drohte uns ein Aufseher: „Deutschland seht ihr nie wieder!“ So etwas ist grausam. Und Workuta, das ist wie das Ende der Welt: Der äußerste Zipfel Nordosteuropas, dahinter der Ural. Das Gebiet liegt zweitausend Kilometer nordöstlich von Moskau, 110 Kilometer nördlich des Polarkreises. Die Baumgrenze endet bereits 600 Kilometer weiter südlich, und so gibt es in dieser kahlen, unendlichen Tundra nur Buschwerk und immerwährenden scharfen Wind. Der Winter dauert neun Monate, und die Temperatur fällt auf minus 55 Grad. Frühling, Herbst und Sommer dauern zusammen nur drei Monate bei bis zu 35 Grad. Die Vegetationslosigkeit führt zu Sauerstoffmangel, und so steigt der Blutdruck bei körperlicher Arbeit schnell auf weit über zweihundert – da würde in unseren Breiten mancher tot umfallen. 

Wie sind Sie dorthin gekommen? 

Hoffmann: 1951 studierte ich an der Ingenieurschule im sächsischen Mittweida. Heimlich hörte ich Rias, der berichtete, in der DDR würden Menschen spurlos verschwinden. Und tatsächlich wußte ich von so etwas in meiner eigenen Heimatstadt Oederan. Aus politischen Gründen, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, seien Leute abgeholt worden. Es ging die Rede, Stalin verlange Quoten an Verhafteten. In erster Linie kleine NSDAP-Mitglieder, aber es traf auch andere. Der Rias bat, ihm solche Fälle zu melden. Na ja, mich hat das sehr beschäftigt. Einer inneren Stimme folgend, fuhr ich zum Funkhaus in West-Berlin – das war ja lange vor der Mauer.

Hatten Sie keine Angst? 

Hoffmann: Doch, aber ich dachte an die armen Menschen. Beim Rias wurde ich dann an die KgU vermittelt. 

Die „Kampfgemeinschaft gegen Unmenschlichkeit“, eine Gruppierung junger Freiwilliger, die sich als Lehre aus dem Dritten Reich verpflichtet fühlten, gegen jeden Totalitarismus Widerstand zu leisten und die SED bekämpften. Zu ihren Gründern gehörte neben dem späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda auch Rainer Hildebrandt, der später das „Mauermuseum Haus am Checkpoint Charlie“ in Berlin gründete. 

Hoffmann: KgU war mir kein Begriff. Ihr Büro war am Kurfürstendamm, getarnt als Industrievertretung. 

Hatten Sie also politische Motive? 

Hoffmann: Nein, meine Familie war unpolitisch. Schon in der NS-Zeit hielt mein Vater sich heraus und ebenso unter der SED. Aber diese kriminellen Praktiken, Menschen zu verschleppen – das war schlimm. Aber Sie haben recht, die KgU war eine politische Gruppe und wurde damals – im Kalten Krieg – von Washington und Bonn unterstützt. Man gab mir dort Flugblätter und Broschüren, die über die Lage in der DDR aufklärten und von außen – also der Umschlag – als Wanderführer durch die Mark Brandenburg getarnt waren.

Hatten Sie keine Angst, in der DDR solche Schriften zu verteilen?

Hoffman: Doch, deshalb habe ich das dann auch nicht gemacht; außer an zwei, drei Freunde, denen ich vertaute habe. 

Was genau haben Sie gefürchtet?

Hoffmann: Tja, eigentlich nichts Konkretes. Mein Gefühl sagte mir einfach: Vorsicht, Gefahr! Mein Verhalten in der Sache damals war sowieso nicht intellektuell, sondern rein gefühlsmäßig.

Also fühlten Sie sich dann doch sicher? 

Hoffmann: Nein, und erst recht nicht an jenem Tag, als plötzlich zwei Männer nach dem Seminar auf mich warteten. 

Was für Männer? 

Hoffmann: Das weiß ich nicht, sie sahen aus wie Studenten: Sie kämen aus Leipzig und wollten mit mir zusammenarbeiten. Ich meinte, ich wolle erst mal Mittag essen gehen. Sie bestanden darauf, mich dazu einzuladen – und dann nahmen sie mich in die Mitte. 

Da schwante Ihnen etwas? 

Hoffmann: Schwante? Ich hatte gleich gewußt, daß etwas nicht stimmte und ich in Gefahr war. Ich rannte einfach los, rannte und rannte! Die zwei hinterher. Ich sah, daß einer die Waffe zückte. Gleichzeitig fuhr eine schwarze Limousine an – mit verhängten Scheiben, so daß man nicht hineinsehen konnte. 

Wie im Film!

Hoffmann: Ja, ich floh in den nächsten Hauseingang, aber die zwei packten mich und zwangen mich in den Wagen. Der Fahrer war offenbar Russe. 

Was ging Ihnen durch den Kopf?

Hoffmann: Ehrlich gesagt war ich einfach nur schockiert und wie gelähmt.

Ihnen war nicht klar, was passierte? 

Hoffmann: Überraschung, Staunen und Schock überdeckten erst mal alles andere, die Gedanken und Gefühle.

Wann kam die Angst? 

Hoffmann: Im Grunde schon zwei Wochen vorher. Ich bekam so eine Ahnung  … das kann auf die Dauer nicht gutgehen. – Jetzt war es tatsächlich passiert.     

Warum sind Sie aufgeflogen, wenn Sie doch gar keine Flugblätter verteilt haben?

Hoffmann: Das habe ich später erfahren. Es war wirklich Pech: Kurz nach meinem Besuch bei der KgU wurde eines ihrer Mitglieder nach Ost-Berlin entführt. Man brachte den Mann zum Sprechen, indem man ihm einen anderen gegenübersetzte, der gefoltert worden war. Das genügte. Er nannte leider auch meinen Namen, da der bei der KgU seit meinem Besuch bekannt war. Von da an war ich eigentlich verloren, auch wenn ich es noch nicht wußte. 

Gab es keine Möglichkeit zu fliehen? 

Hoffmann: Wie stellen Sie sich das vor? Das waren doch keine Anfänger. Außerdem brachten Sie mich zu meinem großen Schrecken auch noch in eine sowjetische Kommandantur. Man filzte mich, nahm mir mein Sparbuch ab und führte mich vor einen Offizier, vor dem eine Pistole auf dem Tisch lag. Als der mich direkt mit meinem KgU-Decknamen anredete, war alles klar. Er stellte mir Fragen und verlangte, daß ich ein Dokument unterschreibe. Ich weigerte mich, weil ich den russischen Text nicht lesen konnte. Da half der Dolmetscher mit Fußtritten nach, bis ich unterschrieb. Mein Sparbuch übergab man übrigens meinen beiden Fängern – offenbar als Judaslohn. Dann verfrachteten sie mich nach Chemnitz, schließlich nach Dresden, wo man mich weiter verhörte. 

Warum nach Dresden?

Hoffmann: Das weiß ich nicht genau, jedenfalls fuhr mich dort jeden Tag ein als „Union-Brot“-Transporter getarnter Lieferwagen zu einem russischen Gericht, das mich schließlich verurteilte – wegen „Spionage“, „Gruppenbildung“ und „antisowjetischer Hetze“. Schuldig und verurteilt zu 25 Jahren Zwangsarbeit! 

Was fühlt man da?

Hoffmann: Sie werden lachen, da brach bei mir der Galgenhumor durch. 

Nämlich?

Hoffmann: Nach der Urteilsverkündung fragte der Richter, ob ich noch einen Wunsch habe.  „Ja, kann ich nach Hause gehen?“ Da lachten die Russen. 

Bricht man da nicht zusammen? 

Hoffmann: Ich habe das nicht glauben können. Mir erschien das alles als absurd und verrückt.

Wann wurde Ihnen klar, daß die es ernst meinen? 

Hoffmann: Als ich zu den anderen Gefangenen gesteckt wurde und deren Verzweiflung spürte. Die waren wirklich verzweifelt! Da dämmerte es auch mir. Dann wurde mir der Kopf geschoren, und irgendwann ging es zum Güterbahnhof, wo wir in einen als Postwaggon getarnten Gefängniswagen verladen wurden – Reiseziel Rußland. Nach zwei Tagen erreichten wir Brest-Litowsk. 

Was dachten Sie da?

Hoffmann: Tja, man war völlig verzweifelt … aber dann faßte man auch wieder Hoffnung, weil das doch alles gar nicht sein kann! 25 Jahre, unvorstellbar! Da muß irgend etwas passieren, das einen rettet, weil dieses Schicksal nicht zu begreifen ist! Doch statt dessen ging es immer weiter nach Nordosten, hinein in die tiefen Weiten Rußlands, bis ans Ende der Welt, bis nach Workuta. 

Allein im Raum Workuta gab es vierzig Lager des später „Archipel Gulag“ genannten sowjetischen Lagersystems. 

Hoffmann: 41 – wie wir sagten! Denn „Lager 41“, so nannten wir den Friedhof, wo man landete, wenn man zu fliehen versuchte und geschnappt wurde. Solche armen Menschen wurden vor den Augen der angetretenen Häftlinge zusammengeschlagen, bis sie liegenblieben und beerdigt werden mußten.

Die Zeit der „Vernichtung durch Arbeit“ war damals aber schon vorbei? 

Hoffmann: Nun, wie man es sieht. Richtig ist, daß es regelmäßig zu essen gab, aber eigentlich zuwenig – erst in späteren Jahren gab es „reichlich“. Eine Mahlzeit vor der Schicht, eine danach: Suppe, Brei, Brot und monatlich eine Vitamintablette – das aber bei täglich härtester Arbeit im Kohlebergbau. Immerhin durfte jeder bei Schichtende ein Stück Kohle mitnehmen, so daß wir unsere Holzbaracken, die von den Invaliden in Ordnung gehalten wurden, heizen konnten. Jede Baracke faßte achtzig Mann, verteilt auf zwei Schlafsäle. 

Wie viele Ihrer Kameraden überlebten?

Hoffmann: Die meisten, denn man brauchte ja unsere Arbeitskraft. Allerdings hatten wir im Akkord zu arbeiten, und Sicherheitsvorkehrungen interessierten kaum. Dennoch war die Sterblichkeit nicht so hoch, denn wir waren alle junge Leute, die viel ertragen konnten. Ganz schlimm aber war, daß uns Deutschen im Gegensatz zu Litauern, Esten, Rumänen oder Zigeunern verboten wurde, nach Hause zu schreiben. Es ist in so einer Lage die schlimmste Psychofolter, weder seinen Angehörigen mitteilen zu können, daß man noch am Leben ist, noch zu erfahren, ob es ihnen gutgeht. Für sie waren wir einfach spurlos verschwunden. 

Warum saßen Ihre Kameraden ein? 

Hoffmann: Das weiß ich nicht, da ich mit den anderen Nationalitäten nicht in ihrer Sprache sprechen konnte. Die anderen Deutschen waren auch wegen der KgU da, oder sie waren Kriegsgefangene, die seit 1945 saßen.

Die holte Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 nach Hause. 

Hoffmann: Das ist der bekannte Teil der Geschichte. Der unbekannte ist, daß er auch uns rettete. Ich weiß nicht, was geworden wäre, wenn Adenauer das nicht geschafft hätte. Er hat uns gerettet! 

Was bleibt von Workuta? 

Hoffmann: Ich hatte später einen Herzinfarkt. Der Arzt sagte, das käme von Workuta. Schließlich haben wir uns in einer Häftlingskameradschaft zusammengetan, die sich bis heute jedes Jahr trifft. Anfangs sind wir 3.000 gewesen, heute noch etwa dreißig. Zudem bleibt ein geschärftes Bewußtsein für Unrecht, Unterdrückung und Propaganda, das einen auch heute klarer sehen läßt. 

Inwiefern? 

Hoffmann: Nun, Sie von der JUNGEN FREIHEIT wissen ja selbst gut, daß wir heute in einer halben Diktatur leben. 

Ist das nicht übertrieben? 

Hoffmann: Ich weiß, wovon ich rede: daß man bei uns keineswegs alles sagen darf, auch wenn es historisch wahr ist. So aber fängt es immer an. Aber die meisten Menschen, die die Diktatur nicht erlebt haben, können sich das nicht vorstellen, weil sie die ersten Anzeichen nicht erkennen. Und wenn von Widerstand die Rede ist, dann immer nur von dem im Dritten Reich. Dabei gab es viel mehr Widerstand gegen die SED als gegen die NSDAP. Denken Sie allein an den 17. Juni 1953! Gab es je einen auch nur halb so großen Aufstand gegen die Nazis? Dennoch wird der „kleine“ NS-Widerstand weit mehr gewürdigt als der breite antikommunistische. Sogar der „17. Juni“-Feiertag wurde abgeschafft – so etwas hätte man sich beim NS-Widerstand nie getraut! Wer erinnert sich heute noch an uns? Wir, die Opfer des Kommunismus, sind Opfer zweiter Klasse, so wie deutsche Opfer überhaupt. Der Kommunismus aber gilt immer noch als eine doch irgendwie „gute Idee“. Es ist obszön!  

Warum sind Sie ein Jahr nach Ihrer Entlassung, also 1956, in den Westen geflohen?

Hoffmann: Weil ich keine Ruhe mehr fand und fürchtete, sie würden mich wieder holen. Diesen Alptraum vielleicht noch einmal durchleben zu müssen – diese Angst habe ich einfach nicht mehr ertragen. Immerhin hat unser früher Widerstand mit dessen dramatischen Folgen die Vereinigung von West- mit Mitteldeutschland vorbereitet. Und immerhin wurden wir Polit-Häftlinge von der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft 1996 rehabilitiert.   






Dr. Martin Hoffmann, der Ingenieur wurde 1930 im sächsischen Oederan geboren und arbeitete nach seiner Flucht in den Westen als technischer Leiter und Betriebsingenieur. Ein Zweitstudium der Geschichte schloß er mit einem Doktortitel ab. 2006 schilderte er in der im Buchhandel erhältlichen Broschüre „Ab nach Workuta“ (28 Seiten) sein Schicksal im Gulag. 2001 gründete er in Karlsruhe und 2002 in Oederan je ein privates Zeitzeugenmuseum. Vor wenigen Tagen verstarb Martin Hoffmann im Alter von 88 Jahren. Mehr über das Schicksal deutscher Workuta-Häftlinge findet sich unter:  www.workuta.de

Foto:„Zug der Geopferten“, Mahnmal (in Rumänien) für die Toten des Gulag: „Wer erinnert sich heute noch?“

 

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