© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Ein Schritt vor und zwei zurück
Fall Sami A.: Politik und Verwaltungsgericht werfen sich gegenseitig Versagen vor / „Im Ergebnis froh sein“
Paul Leonhard

Daß der abgeschobene Asylbewerber Sami A., ein ehemaliger Leibwächter des von amerikanischen Militärs liquidierten Al-Qaida-Chefs Osama bin Laden, nach Deutschland zurückgeholt werden muß, ist eines der Urteile, die deutschlandweit kontrovers diskutiert werden. Dabei hatte Nordrhein-Westfalens Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) eigentlich geplant, den Islamisten, dessen Asylantrag bereits 2007 abschlägig beschieden wurde, „diskret und schnell“ ausfliegen zu lassen.

Ein Vorhaben, das zwar generalstabsmäßig umgesetzt werden konnte, erweist sich für den Liberalen nun als Bumerang. Denn die Düsseldorfer Verwaltungsrichter und Münsteraner Oberverwaltungsrichter sind in Sachen Tunesien grundlegend anderer Meinung als Politik und Diplomatie. Aus Sicht der Juristen droht Sami A., der laut einer Anfrage der AfD-Fraktion vom April seit 2008 nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuletzt 1.167,84 Euro monatlich bezog, in seinem Heimatland Tunesien Folter.

Rechtmäßigkeit des Widerrufs ist unklar

Selbst als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 2014 mit Blick auf den Arabischen Frühling, einen Regierungswechsel in Tunesien und europäische Urteile gegen tunesische Islamisten, sein vier Jahre zuvor verhängtes Abschiebeverbot aufhob, blieben die Richter am OVG Münster stur. Aus ihrer Sicht drohen Sami A. bei einer Rückkehr nach Tunesien „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“.

Besonders düpiert hat sie daher das politische Handeln des Ministers und seiner Mitarbeiter. Schließlich hatte das Verwaltungsgericht in Unkenntnis darüber, daß ein Abschiebetermin für den 13. Juli angeordnet worden war, am Vortag eben diese Abschiebung untersagt, dies aber der zuständigen Behörde erst zu einem Zeitpunkt mitgeteilt, als diese bereits gehandelt hatte.

Daß die „grob rechtswidrige“ und „grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien“ verletzende Abschiebung nach Bekanntwerden des Urteils nicht abgebrochen wurde, werfen die Verwaltungsrichter der Ausländerbehörde Bochum nun vor und fordern diese auf, den Islamisten „unverzüglich auf Kosten der Ausländerbehörde zurückzuholen“. Dem VG Gelsenkirchen seien Informationen bewußt vorenthalten worden, „um eine die Abschiebung des Sami A. möglicherweise störende rechtzeitige Entscheidung des Gerichts über ein Abschiebungsverbot zu verhindern“, bekundet Ricarda Brandts, Gerichtspräsidentin des Oberverwaltungsgerichts.

„Für die vom OVG nur zu beurteilende ausländerrechtliche Frage, ob Sami A. nach Deutschland zurückzuholen ist, kommt es allein darauf an, ob die Abschiebung selbst rechtswidrig war und dadurch ein andauernder rechtswidriger Zustand geschaffen worden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist“, heißt es in der Begründung. Daß die Verwaltungsrichter selbst die Vollziehung des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom 20. Juni 2018 ausgesetzt haben und ein beim Verwaltungsgericht anhängiges Klageverfahren über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs noch immer nicht abschließend entschieden wurde, sei nur am Rande vermerkt.

Während die Richter vor Wut über das Handeln der Ausländerbehörde schäumten, zeigte sich Armin Laschet, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gelassen: „Im Ergebnis können wir froh sein, daß der Gefährder nicht mehr in Deutschland ist.“ Die Bundesregierung selbst laviert. Hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erst persönlich Druck gemacht und verkündet, „mein Ziel ist es, die Abschiebung zu erreichen“, so heißt es jetzt, es habe „keinerlei Einflußnahmen auf irgend­einen Verfahrensschritt“ gegeben.

Den Verwaltungsrichtern geht es aktuell aber gar nicht darum, ob in Tunesien gefoltert wird oder nicht, sondern allein um die „Klärung der Frage der Rechtswidrigkeit der Abschiebung und nachfolgend der Folgenbeseitigung im Wege einer Rückholung“, wie es im Juristendeutsch heißt: „Der Ausländerbehörde und den weiteren beteiligten Sicherheitsbehörden obliegt es, in Fortführung des – vor der rechtswidrigen Abschiebung durchgeführten – erforderlichen Sicherheitsmanagements, Sami A. im Bundes­gebiet zu beobachten und zu kontrollieren.“

Im Mittelpunkt der aktuellen Medienkritik steht NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) mit seiner Richterschelte: Die Richter hätten in der Beurteilung des Falls Sami A. dem Rechtsempfinden der Bürger zuwenig Beachtung geschenkt: „Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen“, sagte er der Rheinischen Post. „Wenn Urteile von Gerichten von der Bevölkerung nicht mehr verstanden werden, hat die Justiz ein Vermittlungsproblem“, sekundiert Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU).

Damit haben die Christdemokraten eine öffentliche Debatte über das Verhältnis von Politik, Verwaltung und Gerichten ausgelöst, in der es auch darum geht, woher Richter ihre Informationen beziehen. Beispielsweise über die angebliche Folter in Tunesien – einem Land, das die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet hat. „Unsere Verwaltungsgerichte stehen vor dem Kollaps“, warnt zudem Staatsrechtler Rupert Scholz (CDU) gegenüber der Bild-Zeitung und verweist auf derzeit bis zu 400.000 anhängige Verfahren. „Das ist nicht zu bewältigen, auch nicht mit Blick auf den Sozialstaat und die Integration.“