© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Ideologisch überhöht
Sozialpolitik: Anhaltende Diskussion über Rentenproblematik / AfD in Thüringen legt Umlagekonzept vor
Jürgen Liminski

Seit zwei Legislaturperioden stellen die Wähler über 50 Jahre eine deutliche und wachsende Mehrheit. Sie stimmen vor allem für die Unionsparteien und die SPD, weshalb kaum zu erwarten ist, daß die Regierungskoalition dieser Wählergruppe Opfer abverlangen wird. Im Gegenteil: Bundesfinanzminister Olaf Scholz verabreicht gerade eine neue Beruhigungspille für seine treueste Klientel. Das Rentenniveau von 48 Prozent des Arbeitseinkommens soll statt bis 2025 nun bis 2040 garantiert werden. Das soll die Stimmen der Rentner garantieren – nach dem erfolgreichen Norbert-Blüm-Motto von 1986: „Die Renten sind sicher!“

Aber sicher sind nur die Rentner, denn die Demographie ist so gnadenlos wie die Mathematik. Künftige Altersarmut läßt sich relativ genau berechnen, so wie die fehlenden Kinder und künftigen Beitragszahler für die umlagebasierten Sozialversicherungssysteme. Im Moment ist der Alarmpegel gedämpft, weil die Sozialkassen durch die anhaltend gute Konjunktur halb voll sind und der Staat, der letztlich der Kassenwart dieser Umlagesysteme ist, durch die niedrigen Zinsen kein akutes Problem mit der schwarzen Null hat.

Außerdem werden momentan mehr Kinder geboren, was „Gelegenheitsdemographen“, wie Herwig Birg die Autoren oberflächlicher Analysen demographischer Bewegungen nennt, gleich als Wende bezeichnen. Aber es handelt sich nur um einen kleinen Hubbel auf der schiefen Ebene des demographischen Niedergangs, weil die Enkel der Babyboomer im gebärfähigen Alter angekommen sind und die Wirtschaftslage generatives Vertrauen verspricht. Aber wehe die Konjunktur bricht ein – deshalb ist es geboten, sich Gedanken über die Zukunft der Rentensysteme zu machen.

Die AfD hat hier Nachholbedarf, wie Parteichef Alexander Gauland im ZDF-Sommerinterview unumwunden zugab. Erst auf einem Parteitag mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik im Frühjahr 2019 will die im Bundestag größte Oppositionspartei ein eigenes Konzept verabschieden. Am weitesten ist bislang der Vorschlag gediehen, den die thüringische AfD-Fraktion erarbeitet hat. Die Bestandsaufnahme im 51seitigen Konzept zur „Produktivitätsrente“ ist solide. Über einige Vorschläge zur Stabilisierung oder zur Beitragsbemessungsgrenze lohnt es sich nachzudenken. Besonders erwägenswert sind die gedanklichen Anstöße über die künftige Einbeziehung der Beamten, Selbständigen und Politiker in die Finanzierung des Rentensystems.

Dazu nur eine aktuelle Zahl, die das Bundesfinanzministerium Anfang Juli veröffentlicht hat: 520 Milliarden Euro muß der Bund an Rückstellungen für die Pensionen einplanen. Vor einem Jahr waren es 478 Milliarden – die Rückstellungen für die Krankenversicherungsbeihilfen in Höhe von 169 Milliarden gar nicht mitgerechnet. Nicht nur in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) gibt es künftig Engpässe, auch die Versorgungslasten für Beamte steigen.

Die dominierende Lohnabhängigkeit des jetzigen GRV-Systems wird künftig unhaltbar. Kapital- und andere Einkünfte müssen wie in anderen Ländern in das Kalkül einbezogen werden. Im Moment erleben wir eine unsoziale Umverteilung von unten nach oben, unter der vor allem Familien mit Kindern leiden. Eine Einbeziehung aller Einkünfte mit einer Mindestrente und einer Maximalrente würde die Verteilung umkehren, so machen es zum Beispiel die Schweizer in ihrer obligatorischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).

Den „generativen Beitrag“ der Eltern anrechnen

Das thüringische Konzept hat aber bei allen lobenswerten Denkanstößen einen gravierenden Systemfehler. Es durchlöchert das Leistungsprinzip, das jedem liberalen Sozialsystem zugrunde liegt, durch einen nationalistisch-ideologischen Rammbock: Die vorgeschlagene „Staatsbürgerrente“ soll 50 Prozent des letzten Einkommens betragen. Wo das nicht der Fall ist, soll ein Steuerzahlerzuschuß von zehn bis 314 Euro monatlich dieses Niveau sichern. Aber diesen Zuschuß sollen nur deutsche Staatsbürger erhalten – Deutsch-Sein als Leistung?

Der Reisepaß wird über die Kriterien einer demokratischen Leistungsgesellschaft gestellt. Das ist Willkür und Abkehr vom Gleichheitssatz, wonach jeder, der sozialversicherungspflichtig arbeitet, auch gleiche Ansprüche erwirbt. Diese doppelte Abkehr (vom Gleichheits- und vom Leistungsprinzip) erinnert an den Satz des 2016 verstorbenen Grandseigneurs der Politischen Wissenschaften in Deutschland, Karl Dietrich Bracher: „Demokratie heißt Selbstbeschränkung, Ideologie Selbstüberhöhung.“ Es ist für das AfD-Konzept vermutlich tödlich, weil mehrheitsverhindernd, daß hier Leistung gegen Ideologie ausgespielt wird. Zwar halten auch die anderen Bundestagsparteien wenig vom Leistungsprinzip in der GRV, sonst hätten sie längst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2001 umgesetzt, in dem die Karlsruher Richter forderten, den „generativen Beitrag“ der Eltern in allen umlagefinanzierten Versicherungssystemen anzurechnen. Gerade die Umsetzung dieses und anderer BVerfG-Urteile ins Programm einer Partei zu heben, würde die Glaubwürdigkeit erhöhen und die Verfassungstreue unterstreichen. Ideologien tun das nicht.

Das Konzept der thüringischen AfD-Fraktion lehnt sich unter dem Stichwort Kinderrente an das Konzept von Hans-Werner Sinn an, der es auf einem Kongreß über „Demographie und Wohlstand“ 2002 in Berlin zum ersten Mal vorgestellt hatte. Sinn hatte damals und auch später keine nationale Komponente gefordert. Leider geht aus dem AfD-Papier nicht klar hervor, ob der Zuschuß nach Kinderzahl an die Staatsbürgerschaft gebunden ist. Wenn das so ist, dann wären auch hier nicht mehr die Einkünfte aus Arbeit des künftigen Rentners ausschlaggebend, sondern das sachfremde Kriterium der Volkszugehörigkeit. 

Unter dem Strich weist das AfD-Renten-Papier einen für politische Parteien beachtlichen wissenschaftlichen Fundus auf. Aber es schießt ideologisch weit über diese Wissenschaftlichkeit hinweg und torpediert sich damit selbst. Sein linksnationalistischer Ansatz à la Sahra Wagenknecht polarisiert und brächte die Partei in der politischen Landschaft in eine Sonderstellung, aus der heraus Koalitionen zur Konzeptumsetzung kaum möglich sind. Auch die Leistungsfähigkeit der bisherigen Umlagesysteme hat ihre Grenzen – und die Wähler wissen das.

AfD-Konzept „Die Produktivitätsrente“:  afd-thl.de/