© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Von der Darmstädter Apotheke zum Weltkonzern
350 Jahre Merck: Ein Familienunternehmen bewahrt seine Innovationskraft / Nichtangriffspakt mit einstigem US-Ableger
Carsten Müller

Daß ausgerechnet eine Apotheke aus einer hessischen Residenzstadt zur Keimzelle von zwei Weltfirmen wurde, ist in der Wirtschaftsgeschichte ein besonderes Kapitel. Als am 26. August 1668 Friedrich Jacob Merck das Apothekenprivileg für die kurz vorher in Darmstadt erworbene Engel-Apotheke ausgestellt bekam, hätte wohl niemand gedacht, was daraus in 350 Jahren werden könnte.

Dabei brauchte es fast 160 Jahre, ehe das, was heute als Merck KGaA bekannt ist, richtig anfing. 1816 wurde Heinrich Emanuel Merck Eigentümer der Engel-Apotheke. Er forschte in seinem Labor mit pflanzlichen Naturstoffen. Ab 1827 machte er daraus ein erstes Handelsgeschäft mit anderen Apothekern, Chemikern und Ärzten. Das war der Grundstein für alles weitere.

Synthetische Medikamente statt pflanzliche Naturstoffe

Dabei ging das Unternehmen von Beginn an Wege, die nicht nur von den Produkten, sondern auch von der Herstellung her als innovativ galten. Schon 1860 bot Merck unterschiedliche Produkte an, die nach klar definierten Reinheitsstandards hergestellt wurden. Sehr schnell entwickelte sich die Familienfirma dadurch zu einem der führenden Pharma- und Chemieunternehmen in Deutschland und expandierte auch fleißig ins Ausland. Einer der Höhepunkte dabei war 1890 die Gründung der amerikanischen Tochter Merck & Co.

Zum Jahrhundertwechsel mußten sich die Darmstädter den ersten großen unternehmerischen Herausforderungen stellen. Denn junge Konkurrenten wie Bayer und Hoechst machten dem damaligen Marktführer das Leben schwer, indem sie sich auf neue synthetische Medikamente fokussierten und damit das Naturstoff-Portfolio von Merck unter Druck brachten. Merck wandte sich auch diesem neuen Pharmabereich zu und konnte schon 1903 mit Veronal das erste Schlafmittel aus Derivaten der Barbitursäure vermarkten.

Dann brachte der Erste Weltkrieg die erste große Zäsur. Die USA hatten nach ihrem Kriegseintritt 1917 den „Trading with the Enemy Act“ beschlossen. Dieses Gesetz enthielt einen Maßnahmenkatalog, wie mit dem Eigentum von deutschen Privatleuten und deutschen Unternehmen in den USA umzugehen sei. Dies betraf auch Merck & Co., das bis dahin unter der Leitung von George Merck, einem Enkel von Heinrich Emanuel Merck stand. Nachdem die Amerikaner Merck & Co. als deutsche Firma einstuften, wurden die 80 Prozent Beteiligung der deutschen Merck öffentlich versteigert.

George Merck, seit 1902 jedoch US-Staatsbürger, konnte seine 20 Prozent behalten. Die versteigerten Anteile landeten bei der McKenna Corporation, einer Firma, die George Merck zusammen mit Goldman Sachs, Lehman Brothers und anderen Investoren gegründet hatte. Ab diesem Zeitpunkt gingen deutsche und US-Firma getrennte Wege, und das gilt auch heute noch. Durch Abkommen ist geregelt, daß Merck KGaA bei ihrem US-Geschäft nicht unter ihrem eigenen Namen agieren darf. Im Gegenzug darf Merck & Co. seinen Namen außerhalb von Amerika nicht nutzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg partizipierte auch Merck am deutschen Wirtschaftswunder und konnte sowohl im Chemiebereich als auch im Pharmasektor wieder stark wachsen und machte mit zahlreichen Neuentwicklungen auf sich aufmerksam. Eines der bekanntesten dürfte dabei das Schnupfenmittel Nasivin sein, das bereits 1961 auf den Markt kam.

Eine wichtige Weichenstellung nahm das Unternehmen 1968 vor. Denn damals wandte man sich erneut dem Thema Flüssigkristalle zu. Für Merck ein alter Hut, da man schon 1904 erste Flüssigkristalle hergestellt hatte. Ab den 1990er Jahren, als technische Neuentwicklungen wie LCD-Bildschirme ihren Siegeszug begannen, konnte Merck als führender Produzent schnell wachsen. Doch jeder Boom geht mal zu Ende. Und so schlug Merck in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren verstärkt den Weg zu einer Neuaufstellung ein. Dazu gehörten genauso Verkäufe von Unternehmensteilen (beispielsweise Medizintechnik) wie Zukäufe zur Stärkung des verbleibenden Geschäftes. Der bislang größte Deal wurde 2014 eingefädelt, als Merck für umgerechnet rund 13 Milliarden Euro die US-Firma Sigma-Aldrich übernahm, die chemische und pharmazeutische Materialien herstellt. Heute bietet man neben Medikamenten auch Labormaterialien und Flüssigkristalle an.

Wäre Merck ebenso erfolgreich gewesen und noch am Leben, wenn die Firma – wie beispielsweise die langjährigen Konkurrenten Bayer oder Hoechst – eine Aktiengesellschaft gewesen wäre? Die Frankfurter Hoechst AG wurde von 1995 bis 2005 filetiert. Bayer 43 plagen Milliarden Euro Schulden. Die Übernahme der US-Saatgutfirma Monsanto könnte der größte Fehlgriff der Firmengeschichte werden (JF 27/18).

Was deutlich wird: Auch wenn die Merck-Familie heutzutage im operativen Geschäft nicht mehr in Erscheinung tritt, so scheint sich auch hier einmal wieder zu bewahrheiten, daß familiär geprägte Firmen oft mehr auf die Nachhaltigkeit ihrer unternehmerischen Entscheidungen achten, als dies bei klassischen Aktiengesellschaften der Fall sein könnte. Bei Merck bedeutet dies, daß den bisherigen 350 Jahren wohl noch viele folgen könnten. Und die Engel-Apotheke? Diese wurde zwar im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört, aber danach wieder aufgebaut. Sie befindet sich heute immer noch im Besitz der Merck-Familie. An Hoechst erinnert nur noch ein Industriepark im Frankfurter Westen.

 www.merckgroup.com/

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker wird am 12. September in Darmstadt den Pützer-Turm von Merck als „Historische Stätte der Chemie“ einweihen:  www.gdch.de/