© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Über die Modellierbarkeit von Geschichtsbildern
„Hanseraum“-Deutungen bei Carl Schmitt und Fritz Rörig
Dirk Glaser

Mitunter bleiben auch enzyklopädisch gebildete Geister in ihre Fakultätsgrenzen gebannt. So wirkte der Staatsrechtler Carl Schmitt jahrelang an der Berliner Universität, ohne einem international berühmten Kollegen in der Philosophischen Fakultät, dem Mediävisten Fritz Rörig (1882–1952), Beachtung zu schenken. Erst auf einer interdisziplinären, im Rahmen des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ 1941 in Nürnberg zum Thema „Das Reich und Europa“ abgehaltenen Tagung erkannte der inzwischen ganz auf das Völkerrecht der „Großräume“ konzentrierte Schmitt, daß von Rörig, einer Koryphäe auf dem Feld der Hanse-Geschichte, einiges in Sachen Raumwahrnehmung und Raumaneignung zu lernen war. Carsten Groth und Philipp Höhn kommt das Verdienst zu, in der gewöhnlich nur von Regionalhistorikern ausgebeuteten Schatzkammer des Archivs der Hansestadt Lübeck den Nachlaß Rörigs inspiziert zu haben, um anhand der Korrespondenz beider Gelehrter den Wandel ihrer Auffassungen von „Hanseraum, Reich und Europa“ zu rekonstruieren (Historische Zeitschrift, 306/2018).    

Seit Schmitts 1939 präsentiertem Entwurf über „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ ist der Berg an „Sekundärliteratur“ in den vergangenen 25 Jahren erheblich gewachsen. Wirklich Neues können Groth und Höhn daher zur weiteren Erhellung der Position Schmitts kaum beitragen. Analytisch unergiebig ist insbesondere das angeblich originelle „Verständnis von Spatialität“, das sie Schmitt und Rörig gleichermaßen attestieren. Demnach hätten beide erkannt, daß Raum keine „natürliche Gegebenheit“, sondern stets „sozial bedingt“ und konstruiert das „dynamisch und stetig umkämpfte Resultat menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Handelns“ sei. 

Eine solche Trivialität hätten sich Schmitt und Rörig jedoch schwerlich als geistige Leistung zurechnen lassen. Originell ist bei beiden vielmehr, welche Schlüsse sie aus der primär durch reale Machtkonstellationen, also kriegsbedingt veränderten „sozialen Konstruktion“ des europäischen Raumes zogen. Für Schmitt ist das Ergebnis im Kern bekannt. Noch während des Zweiten Weltkriegs verabschiedet er sich endgültig von Völkern und Nationalstaaten als den souveränen Akteuren der Weltgeschichte und setzt an ihre Stelle Imperien. Unter ihnen das nationalsozialistische Reich, das sich seit 1938 als Vormacht des europäischen Großraums fest zu etablieren schien.

Der Hanse-Experte Fritz Rörig, der in Nürnberg über „Das mittelalterliche Kaisertum und die Wende zur europäischen Ordnung (1197)“ referierte und Schmitt anregte, seine völkerrechtlichen Reflexionen historisch zu vertiefen, beschränkte seine Beiträge zum Raum-Diskurs zwar auf aktualisierende Studien zu Nordeuropa und den Kreis der Ostseeanrainer bis zu Beginn der Neuzeit, als die Hanse von der Weltbühne abtrat. Aber auch sein um historiographische Legitimierung der deutschen Hegemonie in Europa bemühtes Interesse galt einer vom Nationalstaat abgelösten Raumordnung, wie sie die Hanse mit der von ihr dominierten spätmittelalterlichen „Großraumwirtschaft“ schuf. 

In diesem, dem wissenschaftshistorisch bisher eher stiefmütterlich behandelten Rörig geltenden, von Schmitt ablassenden zweiten Teil ihres Aufsatzes gelangen Groth und Höhn aber zu einer exemplarisch soliden Darlegung des Zusammenhangs von Politik und Wissenschaft. Diese triviale Einsicht, ursprünglich von Arthur Schopenhauer formuliert („Der Wille schafft sich den Intellekt zu seinem Dienst“), vom wilhelminischen Nationalökonomen Wilhelm Hasbach fast marxistisch zugespitzt („Ideen sind Waffen der Bedürfnisse“), hat der Schopenhauer-Verehrer Max Horkheimer mit seinem Schlagwort von der „instrumentellen Vernunft“ schließlich zur gängigen Münze geprägt, mit der auch Groth und Höhn bei ihren ideologiekritischen Sondierungen zu Rörigs „Hanseraum“ zahlen. 

Von „Mein Feld ist die Welt“ zur „Nato-Hanse“

Dabei stören, wie schon bei der Schmitt-Deutung, einige bei bundesdeutschen Historikern unvermeidliche Verbeugungen vor dem Zeitgeist sowie irritierende Zuordnungen wie etwa die Behauptung, Rörig, 1906 in Leipzig promoviert, 1918 als Lübecker Staatsarchivar dorthin auf ein Extraordinariat berufen, 1923 Kieler Ordinarius, sei in der Weimarer Republik „akademisch sozialisiert“ worden. Die wechselseitige Verschränkung von Hanseforschung und politisch aufgeladenen Deutungsmustern, die zeitabhängige „Modellierbarkeit“ und „Ambiguität“ von Geschichtsbildern, die bei Rörig von der Kaiserzeit bis in seine letzten Jahre als Professor im SED-Staat führt, zeigen die Autoren jedoch zutreffend auf. 

Bis 1918 sei Rörigs Hanse-Bild stark von der ersten Globalisierung und den „Mein Feld ist die Welt“-Ambitionen im Kaiserreich beeinflußt gewesen. Also habe er die Hanse mit ihren Beziehungen nach Afrika und Asien „globalhistorisch“ exponiert, sie als „Träger mittelalterlicher Weltwirtschaft“ gepriesen und ihre Ablösung durch nationale Volkswirtschaften als Rückschritt gewertet. Während der Weimarer Zeit akzentuierte Rörig dann den tragenden Part des unternehmerisch aktiven, progressiven städtischen Bürgertums, dessen Rolle als politischer Akteur nach 1933 dem Konstrukt einer am Gemeinwohl orientierten Hanse als „Interessenwalterin des Reiches im Norden“ wich. 

Vom bis 1945 geformten Vorbild für eine offensive, supranationale europäische Raumgestaltung sei es schließlich nur ein kleiner Schritt gewesen, um die Hanse als Vorläufer der Völkerverständigung, als Frieden durch Handel stiftende Macht in Europa zu kreieren, die Rörigs Ost-Berliner Kollegen als „Nato-Hanse“ schmähten. Diese bundesdeutsche Vereinnahmung für die europäische Integration habe sich nach 1990 allerdings geschichtspolitisch konsequent durchgesetzt.